Tourismus Wann das Reisen zur sozialen Pflicht wurde

Tourismus: Wann das Reisen zur sozialen Pflicht wurde Quelle: imago images

16 Prozent der Deutschen können sich keinen Urlaub leisten, so die Schlagzeile einer aktuellen Studie. Deutet das wirklich auf Armut hin – oder nur auf unsere gestiegene Anspruchshaltung?

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Für Millionen Bundesbürger ist eine einwöchige Urlaubsreise nicht erschwinglich. „Besonders in der Ferienzeit ist es für Kinder natürlich bitter, wenn sie gerne verreisen würden, es aber nicht geht“, sagt die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Die Linke). Sie wertet die Zahlen als Zeichen von Armut. „Die Menschen brauchen wieder mehr Geld in der Tasche.“

Zimmermann beruft sich auf Daten des Europäischen Statistikamts Eurostat. 2017 konnten sich demnach 16 Prozent der Deutschen keine einwöchige Urlaubsreise außerhalb der eigenen Heimat leisten. Unter Alleinstehenden betraf das jeden Vierten, unter Alleinerziehenden sogar jeden Dritten.

Eurostat erhebt die Zahlen im Rahmen einer jährlichen Befragung zu materieller Entbehrung. Nicht zu verreisen ist dabei nur einer von insgesamt 13 Indikatoren, aus denen sich das Konzept der materiellen Entbehrung zusammensetzt. Andere Indikatoren fragen danach, ob Menschen rechtzeitig ihre Rechnungen begleichen, regelmäßig heizen oder sich ein Auto leisten können. Das Konzept soll anhand lebensnaher Faktoren Unterversorgung von Haushalten sichtbar machen, jenseits der Betrachtung des bloßen Durchschnittseinkommens.

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Markus Grabka, der am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) am Sozio-Ökonomischen Panel mitwirkt, betrachtet einige der Indikatoren kritisch: „Wer in Griechenland nicht regelmäßig heizen kann, hat ein deutlich geringeres Problem als jemand in Finnland.“ Trotzdem beansprucht das Konzept, einen innereuropäischen Vergleich zu ermöglichen. Grabka rät zudem davon ab, einzelne Indikatoren herauszugreifen und außerhalb des Kontextes des Konzepts zu betrachten. Gemessen am EU-Schnitt ist das Maß materieller Entbehrung in Deutschland sehr gering. Auch gemessen an nur diesem einen Indikator geht es den Deutschen vergleichsweise gut: In der gesamten Europäischen Union konnten sich im vergangenen Jahr 30 Prozent der Menschen keine Urlaubsreise leisten.

Das eigentliche Problem sieht Grabka in den mit dem zunehmenden Wohlfahrtsniveau gestiegenen Ansprüchen der Deutschen. Besonders deutlich zeige sich das am Beispiel der Wohnfläche. „Die Quadratmeterzahl der Wohnungsfläche pro Kopf ist in den vergangenen 50 Jahren exorbitant gestiegen“, berichtet Grabka. „Die Bundesbürger haben sich dabei sehr schnell an das gestiegene Niveau gewöhnt.“ Dass viele Kinder heute ein eigenes Zimmer haben, ist die Regel – in den Siebzigerjahren war das die Ausnahme. Doch „schlecht ging es den Deutschen auch in den Siebzigern nicht.“ Dass jedes Jahr ein Urlaub drin sein muss, ist ebenfalls eine Anspruchshaltung, die vorherige Generationen nicht kannten. „Die Generation meiner Eltern ist nicht jedes Jahr verreist, sondern mitunter nur alle fünf Jahre“, sagt Grabka.

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Entsprechend wird die positive Entwicklung, die die Eurostat-Statistik widerspiegelt, auch vielfach außer Acht gelassen: Die Quote derer, die sich keinen Urlaub leisten können, ist in Deutschland seit Jahren kontinuierlich rückläufig. Waren es 2008 noch 25 Prozent, sind es 2017 nur noch 16 Prozent. Bei den Alleinerziehenden sank die Quote seit 2008 von 55 Prozent auf 32. „Interessant ist, dass auch während der Zeit der Wirtschaftskrise ab 2008 die Zahl derer, die sich einen Urlaub leisten, kontinuierlich zugenommen hat“, sagt Torsten Widmann, Tourismusexperte an der Dualen Hochschule Ravensburg. „Das zeigt, wie wichtig den Deutschen ihr Urlaub ist.“ Manche verzichteten heute eher auf größere Investitionen als auf den liebgewonnenen Jahresurlaub, sagt Widmann. „Für viele Menschen ist der Urlaub heute der Höhepunkt des Jahres.“

Wie der Urlaub zum Massenphänomen wurde

Dass Verreisen – und damit verbunden das Reisen in die Ferne – überhaupt zu einem Massenphänomen geworden ist, stellt eine neuere Entwicklung dar. Der Soziologe Hans-Joachim Knebel schrieb in den Sechzigerjahren eine der ersten Dissertationen zum Thema Tourismus mit dem Titel „Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus“. Er sah das Reisen als eine Form des demonstrativen Konsums und diesen Konsum wiederum „als soziale Pflicht in der industriellen Gesellschaft“. Die Art und Weise des Reisens hatte aus Knebels Sicht einen entscheidenden Einfluss auf die Bestimmung des sozialen Status des Einzelnen.

An der Tatsache, dass Reisen auch eine repräsentative Funktion hat, hat sich bis heute nichts geändert, sagt der Tourismusforscher Widmann. „Tourismus hat anfänglich zwar der Erholung gedient, die physische Erholungswirkung des Verreisens ist aber eher gering und mehr ein vorgeschobenes Motiv.“ Wichtig sei nach wie vor die Anerkennung innerhalb der eigenen Bezugsgruppe.

Allerdings bezog sich Knebels Analyse auf eine Zeit, in der Verreisen grundsätzlich etwas Besonderes war. Flugreisen leisteten sich damals vor allem reiche Menschen, so kam der Begriff „Jetset“ auf. Durch die Demokratisierung des Reisens ist das Prestigepotential gesunken. Prestige generieren die Menschen heute weniger über das Reisen an sich, sondern mehr über exklusive Urlaubsziele oder das Ausüben besonderer Sportarten während des Urlaubs wie Surfen oder Skifahren.

Hier verbringt Deutschland seinen Sommerurlaub

Dass heute ein Großteil der Menschen in Deutschland den Anspruch hat, zu verreisen, hängt laut Widmann mit Entwicklungen in der Ökonomie, im Transportwesen und in der Kommunikation zusammen. Diese Entwicklungen haben bedingt, dass das Reisen mehr und mehr zu einem Massenphänomen geworden ist. Hatten die Menschen in den Fünfzigerjahren im Schnitt noch zwölf Tage Urlaub pro Jahr, sind es heute in der Regel 30 Tage. „Gleichzeitig stiegen die Einkommen – die Menschen hatten mehr freie Zeit und mehr Mittel, um Reisen zu finanzieren“, sagt Widmann. Bis Ende der Sechzigerjahre verdoppelte sich das durchschnittliche Einkommen, Gewerkschaften erkämpften ein kleines Urlaubsgeld.

Verreisten die Menschen in den Fünfzigern noch mit Bus und Bahn, ist das Mittel der Wahl spätestens ab den Sechzigern mehr und mehr das eigene Auto oder das Flugzeug. Große Reiseanbieter wie Thomas Cook sorgten dafür, dass Flüge bald auch für die Masse erschwinglich waren – in diesem Zuge stieg die Zahl der Auslandsreisen und die der Inlandsreisen nahm ab.

Auch der Kommunikationsfortschritt erhöhte die Reiselust. Fuhren die Menschen früher oft auf gut Glück in den Urlaub oder buchten eine Reise per Post und warteten mitunter wochenlang auf eine Antwort, buchten die Menschen ab den Sechzigern via Telefon und seit den Neunzigern im Internet. „Beide Entwicklungen vereinfachten den Buchungsprozess enorm und erhöhten den Reiseverkehr“, sagt Widmann.

Seitdem die Gesellschaft das Verreisen als einen Standard sieht, stellt „Nicht-Verreisen“ einen Prestigeverlust dar. Doch das Reisen hat seinen Preis – nicht nur finanziell. In einem weltweiten Ranking der Treibhausgasverursacher landen Touristen aus Deutschland auf Platz 3 – hinter denen aus den USA und China. Allein die deutschen Reisenden verursachen demnach 329 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr. Der weltweite Treibhausgasausstoß durch Tourismus stieg allein von 2009 bis 2013 von 3,9 auf 4,5 Milliarden Tonnen. Der Trend zeigt weiter nach oben.

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