Tourismus Wann das Reisen zur sozialen Pflicht wurde

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Wie der Urlaub zum Massenphänomen wurde

Dass Verreisen – und damit verbunden das Reisen in die Ferne – überhaupt zu einem Massenphänomen geworden ist, stellt eine neuere Entwicklung dar. Der Soziologe Hans-Joachim Knebel schrieb in den Sechzigerjahren eine der ersten Dissertationen zum Thema Tourismus mit dem Titel „Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus“. Er sah das Reisen als eine Form des demonstrativen Konsums und diesen Konsum wiederum „als soziale Pflicht in der industriellen Gesellschaft“. Die Art und Weise des Reisens hatte aus Knebels Sicht einen entscheidenden Einfluss auf die Bestimmung des sozialen Status des Einzelnen.

An der Tatsache, dass Reisen auch eine repräsentative Funktion hat, hat sich bis heute nichts geändert, sagt der Tourismusforscher Widmann. „Tourismus hat anfänglich zwar der Erholung gedient, die physische Erholungswirkung des Verreisens ist aber eher gering und mehr ein vorgeschobenes Motiv.“ Wichtig sei nach wie vor die Anerkennung innerhalb der eigenen Bezugsgruppe.

Allerdings bezog sich Knebels Analyse auf eine Zeit, in der Verreisen grundsätzlich etwas Besonderes war. Flugreisen leisteten sich damals vor allem reiche Menschen, so kam der Begriff „Jetset“ auf. Durch die Demokratisierung des Reisens ist das Prestigepotential gesunken. Prestige generieren die Menschen heute weniger über das Reisen an sich, sondern mehr über exklusive Urlaubsziele oder das Ausüben besonderer Sportarten während des Urlaubs wie Surfen oder Skifahren.

Hier verbringt Deutschland seinen Sommerurlaub

Dass heute ein Großteil der Menschen in Deutschland den Anspruch hat, zu verreisen, hängt laut Widmann mit Entwicklungen in der Ökonomie, im Transportwesen und in der Kommunikation zusammen. Diese Entwicklungen haben bedingt, dass das Reisen mehr und mehr zu einem Massenphänomen geworden ist. Hatten die Menschen in den Fünfzigerjahren im Schnitt noch zwölf Tage Urlaub pro Jahr, sind es heute in der Regel 30 Tage. „Gleichzeitig stiegen die Einkommen – die Menschen hatten mehr freie Zeit und mehr Mittel, um Reisen zu finanzieren“, sagt Widmann. Bis Ende der Sechzigerjahre verdoppelte sich das durchschnittliche Einkommen, Gewerkschaften erkämpften ein kleines Urlaubsgeld.

Verreisten die Menschen in den Fünfzigern noch mit Bus und Bahn, ist das Mittel der Wahl spätestens ab den Sechzigern mehr und mehr das eigene Auto oder das Flugzeug. Große Reiseanbieter wie Thomas Cook sorgten dafür, dass Flüge bald auch für die Masse erschwinglich waren – in diesem Zuge stieg die Zahl der Auslandsreisen und die der Inlandsreisen nahm ab.

Auch der Kommunikationsfortschritt erhöhte die Reiselust. Fuhren die Menschen früher oft auf gut Glück in den Urlaub oder buchten eine Reise per Post und warteten mitunter wochenlang auf eine Antwort, buchten die Menschen ab den Sechzigern via Telefon und seit den Neunzigern im Internet. „Beide Entwicklungen vereinfachten den Buchungsprozess enorm und erhöhten den Reiseverkehr“, sagt Widmann.

Seitdem die Gesellschaft das Verreisen als einen Standard sieht, stellt „Nicht-Verreisen“ einen Prestigeverlust dar. Doch das Reisen hat seinen Preis – nicht nur finanziell. In einem weltweiten Ranking der Treibhausgasverursacher landen Touristen aus Deutschland auf Platz 3 – hinter denen aus den USA und China. Allein die deutschen Reisenden verursachen demnach 329 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr. Der weltweite Treibhausgasausstoß durch Tourismus stieg allein von 2009 bis 2013 von 3,9 auf 4,5 Milliarden Tonnen. Der Trend zeigt weiter nach oben.

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