
Kaum etwas lieben Politiker so sehr wie Gipfel. Gipfel, das klingt immer so schön nach Bedeutung, nach Herausforderungen und, vor allem, der gleich mitgelieferten Lösung für Probleme aller Art. Der „Flüchtlingsgipfel“, zu dem heute Bundeskanzlerin Angela Merkel die Ministerpräsidenten ins Kanzleramt geladen hat, macht da keine Ausnahme. So ein Spitzentreffen hinterlässt meist selbst dann sichtbare Signale tatkräftiger Politik, wenn kaum etwas Substanzielles entschieden wird. Wenn Politiker Handlungsstärke demonstrieren wollen, berufen sie einen Gipfel ein.
Immerhin: Die Dringlichkeit des heutigen Treffens steht außer Frage. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 200.000 Asylanträge in Deutschland – schon das war ein Mehrjahreshoch. In diesem Jahr allerdings könnten Zahlen erreicht werden wie seit den frühen Neunzigern nicht mehr: mit 300.000 bis 400.000 Anträgen wird gerechnet. Von Januar bis März 2015 waren es alleine schon rund 85.000.
Über das Mittelmeer nach Europa: Zahlen zu Flüchtlingen
Trotz der lebensgefährlichen Fahrt über das Mittelmeer wagen viele Tausend Menschen die Flucht nach Europa. 219.000 Menschen flohen laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR 2014 über das Mittelmeer nach Europa; 2015 waren es bis zum 20. April 35.000.
3.500 Menschen kamen 2014 bei ihrer Flucht ums Leben oder werden vermisst; im laufenden Jahr sind es bis zum 20. April 1600.
170.100 Flüchtlinge erreichten 2014 über das Meer Italien (Januar bis März 2015: mehr als 10.100); weitere 43.500 kamen nach Griechenland, 3.500 nach Spanien, 570 nach Malta und 340 nach Zypern.
66.700 Syrer registrierte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2014 bei einem illegalen Grenzübertritt auf dem Seeweg, 34.300 Menschen kamen aus Eritrea, 12.700 aus Afghanistan und 9.800 aus Mali.
191.000 Flüchtlinge stellten 2014 in der EU einen Asylantrag (dabei wird nicht unterschieden, auf welchem Weg die Flüchtlinge nach Europa kamen). Das sind EU-weit 1,2 Asylbewerber pro tausend Einwohner.
...beantragten 2014 in der EU Asyl (2013: 50.000).
202.700 Asylbewerber wurden 2014 in Deutschland registriert (32 Prozent aller Bewerber), 81.200 in Schweden (13 Prozent) 64.600 in Italien (10 Prozent), 62.800 in Frankreich (10 Prozent) und 42.800 in Ungarn (7 Prozent).
Um 143 Prozent stieg die Zahl der Asylbewerber im Vergleich zu 2013 in Italien, um 126 Prozent in Ungarn, um 60 Prozent in Deutschland und um 50 Prozent in Schweden.
Mit 8,4 Bewerbern pro tausend Einwohner nahm Schweden 2014 im Verhältnis zur Bevölkerung die meisten Flüchtlinge auf. Es folgten Ungarn (4,3), Österreich (3,3), Malta (3,2), Dänemark (2,6) und Deutschland (2,5).
600.000 bis eine Million Menschen warten nach Schätzungen der EU-Kommission allein in Libyen, um in den nächsten Monaten die Überfahrt nach Italien oder Malta zu wagen.
Dieser Andrang erklärt sich – entgegen der medialen Wahrnehmung – weniger aus den Flüchtlingsströmen, die in diesen Tagen aus Afrika über das Mittelmeer oder von Kriegsschauplätzen wie Syrien nach Europa drängen, sondern insbesondere aus einem steten Zustrom von Antragstellern vom Balkan.
Status und Schutz von Flüchtlingen in Deutschland
Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Viele von ihnen dürfen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl aus unterschiedlichen rechtlichen Gründen bleiben. Dabei reicht die Spannbreite vom Asylstatus bis zu einer befristen Duldung mit drohender Abschiebung.
Flüchtlinge, die in ihrem Heimatländern politisch verfolgt werden, haben laut Artikel 16 a des Grundgesetzes Anspruch auf Asyl. Hierfür gibt es allerdings zahlreiche Schranken, die Ablehnungsquote bei Asylanträgen liegt bei 98 Prozent. Schutz und Bleiberecht etwa wegen religiöser Verfolgung oder der sexuellen Orientierung wird auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention gewährt. Für die Praxis spielt die genaue rechtliche Grundlage allerdings keine Rolle: Anerkannte Asylberechtigte erhalten gleichermaßen eine Aufenthaltserlaubnis, die nach drei Jahren überprüft wird. Auch bei den staatlichen Unterstützungsleistungen, etwa Arbeitslosengeld II oder Kindergeld, gibt es keine Unterschiede.
Sogenannten subsidiären, also nachrangigen, Schutz erhalten Flüchtlinge, die zwar keinen Anspruch auf Asyl haben, in ihrer Heimat aber ernsthaft bedroht werden, etwa durch Bürgerkrieg oder Folter. Sie sind als „international Schutzberechtigte“ vor einer Abschiebung erst einmal sicher und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst ein Jahr. Die Erlaubnis wird verlängert, wenn sich die Situation im Heimatland nicht geändert hat.
Eine Duldung erhält, wer etwa nach einem gescheiterten Asylantrag zur Ausreise verpflichtet ist, aber vorerst nicht abgeschoben werden kann. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn kein Pass vorliegt oder es keine Flugverbindung in eine Bürgerkriegsregion gibt. Fällt dieses sogenannte Hindernis weg, droht dem Betroffenen akut die Abschiebung. Zu den Hindernissen für eine Abschiebung zählt unter anderem auch der Schutz von Ehe und Familie. Beispielweise kann ein Ausländer, der hier mit einer Deutschen ein Kind hat, nicht ohne weiteres abgeschoben werden.
Seit Monaten nun klagen Länder und Gemeinden immer lauter, dass ihnen die Kosten zur Bewältigung dieser Flüchtlingswellen über den Kopf wachsen. Unterkünfte müssen gesucht, organisiert, errichtet oder bezahlt werden, die Gesundheitsversorgung muss ebenso gesichert sein wie Schulbesuche von Minderjährigen oder Sprachkurse. Außerdem stehen Asylbewerbern und ihren Familien gesetzliche Geld-Leistungen zu. Schätzungen gehen für dieses Jahr allein von rund 3,5 Milliarden Euro Kosten nur für die Unterbringung aus.
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Die Hauptfrage, die heute im Kanzleramt geklärt werden sollte, ist: Übernimmt der Bund künftig einen größeren Anteil an den finanziellen Lasten? Eine erste Teilantwort auf diese Frage hat es bereits gegeben: 2015 und 2015 überweist der Bund jeweils rund 500 Millionen Euro mehr aus dem Aufkommen der Mehrwertsteuer an die Länder. Doch dabei dürfte es nicht bleiben.