Triage bei Covid-19-Patienten „Man sollte eine Behandlung nicht abbrechen“

Ein Corona-Patient wird auf einer Intensivstation im Universitätsklinikum Bonn beatmet.  Quelle: dpa

Die Medizinerin und Philosophin Christiane Woopen beschreibt, wie entschieden werden sollte, wenn Behandlungsmöglichkeiten knapp werden. Die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates verlangt Gesetze statt nur Leitlinien.

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Christiane Woopen war Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. An der Universität zu Köln lehrt sie als Professorin Ethik und Theorie der Medizin

WirtschaftsWoche: Frau Woopen, Intensivplätze sind bei uns noch nicht knapp in der Coronapandemie. Als erstes könnten Pflegekräfte dafür rar werden. Hilft bei Mangel dann eine Triage, also die Auswahl von Patienten nach ihren Voraussetzungen für die Behandlung?
Christiane Woopen: Die Triage kommt aus der Notfallmedizin. Wenn eine große Katastrophe wie ein Erdbeben stattfindet, werden die Verletzten in Gruppen unterteilt: Wer ist schwer verletzt, kann aber noch warten, wer muss ganz dringend behandelt werden, um zu überleben, und wer ist chancenlos? Die mittlere Gruppe wird als erste behandelt.

Ist ein solcher Ernstfall zu erwarten? Was können wir vielleicht vorher tun?
Das sollte nach Kräften vermieden werden, auch durch das verantwortliche Verhalten aller. Sollte es dennoch dazu kommen, sind zwei Situationen zu unterscheiden: Es kommen zwei Patienten, die ein Beatmungsgerät benötigen, es gibt aber nur eins. Wer bekommt es? Oder: Ein Patient benötigt ein Beatmungsgerät, es sind aber alle in Betrieb. Soll dann bei einem Patienten die Beatmung eingestellt werden?

Ja, wer soll dann Sauerstoff bekommen?
Nach unserer Verfassung ist das Leben des einen Menschen nicht wertvoller als das eines anderen. Die Würde des Menschen erlaubt keine Unterscheidung nach einem Wert von Menschen. Es geht nicht darum, wie alt jemand ist oder welchen sozialen Status sie hat. Sie können nach meiner Auffassung niemanden von der Beatmung nehmen, weil ein jüngerer Mensch den Platz braucht.

Gibt es keine Ausnahmen?
Allenfalls geht das dort, wo medizinisch nach bestem Wissen und Gewissen kaum mehr Aussicht auf Erfolg besteht. Wenn jemand eine Chance von 20 oder 30 Prozent hat, dann ist das eine Chance. Nach meiner Auffassung sollte man eine Behandlung dann nicht abbrechen. Etwas anderes wäre es, wenn es darum geht, bei wem eine Behandlung begonnen wird. Im Notfall ist für Ärztinnen und Pfleger jedoch nicht leicht zu erkennen, welche Überlebenschance genau besteht.

Dann hat immer der den Vorteil, der schon behandelt wird?
Wir möchten vermutlich alle darauf vertrauen können, dass eine begonnene Behandlung zu unserem Wohl fortgesetzt wird. Wichtig ist auch, die Situation des Personals in solch tragischen Situationen zu bedenken. Es ist ein Unterschied, zwischen zwei Patienten in derselben Ausgangssituation entscheiden zu müssen oder bei einem Patienten eine laufende Behandlung abzubrechen, um den Platz freizumachen. Diese Entscheidungen sollten dem Personal auf Intensivstationen nicht ohne rechtliche und psychosoziale Unterstützung aufgebürdet werden.

Wie können Mediziner bei Entscheidungen entlastet werden?
Vor allem, indem man sie gar nicht in diese Situation kommen lässt. Falls es zu erheblichen Engpässen kommen sollte, können deutschlandweit alle intensivmedizinischen Kapazitäten klug verteilt und genutzt werden. Das kann man zentral steuern, um überforderte Regionen zu entlasten.

Können Sie sich vorstellen, dass Profis aus dem Gesundheitswesen bevorzugt behandelt werden, weil sie sich im Job angesteckt haben oder weil das System weiterlaufen muss?
Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir so weit kommen, nach sozialen Kriterien zu unterscheiden. Es wäre auch schwer abzugrenzen, für wen genau Vorteile gelten sollen. Für das Personal auf Intensivstationen? Für die Mutter von vier Kindern? Für den CEO eines Dax-Unternehmens?

Können auch Algorithmen bei der Entscheidung über Leben und Tod helfen -  also festgelegte Entscheidungspfade, die maschinell ablaufen?
Unter bestimmten Voraussetzungen können algorithmische Systeme eine Unterstützung für menschliche Entscheidungen sein. Es muss aber immer transparent bleiben, welche Daten verwendet werden und es sollte keine Abwägung nach den erwarteten Kosten geben. Es geht um Leben und Tod. Die Verantwortung dafür kann kein technisches System übernehmen, sie liegt letztlich beim Menschen.


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Wie lässt sich das kontrollieren? Durch Ärztekammern oder durch Gesetze?
Wir brauchen verbindliche Vorgaben. Es geht um die Zuteilung von Überlebenschancen. Eine gesetzliche Basis mit Festlegung der grundsätzlich zulässigen und unzulässigen Kriterien für eine Triage ist meines Erachtens notwendig. Die genaueren Kriterien können untergesetzlich, also etwa von der Bundesärztekammer erstellt werden. So ist das beispielsweise bei der Organtransplantation. Das Leben einzelner darf nicht vorrangig von der Moral und den persönlichen Einstellungen eines Verantwortlichen auf der Intensivstation abhängen. 

Die im Sommer vorgestellten Corona-Richtlinien der Intensivmediziner sind schon per Eilantrag vor dem Bundesverfassungsgericht gelandet…
Die entscheidende Frage der Zuteilungskriterien für Überlebenschancen in einer Not- und Knappheitssituation kann nicht einzelnen Ärztinnen oder Ärzten vor Ort überlassen werden. Beim Schutz von Leben und Gesundheit ist der Gesetzgeber in der Pflicht. Dazu kann das Bundesverfassungsgericht aber wichtige Aussagen treffen.

Mehr zum Thema: In einer Rekordzeit von nur zehn Monaten haben das Mainzer Biotechunternehmen Biontech und der US-Konzern Pfizer einen Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt. Der Impfstoff BNT162b2 bietet demnach eine mehr als 90-prozentige Wirksamkeit gegen das Virus. Wer ist der Mann, der Biontech lenkt? 

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