Türkei nach dem Putschversuch „Justiz vor Ort kann sich nicht mehr alleine helfen“

Mit Sorge verfolgt der Vorsitzende des Richterbundes, Jens Gnisa, die Entwicklung in der Türkei. Er warnt: „Der Rechtsstaat ist in der Türkei akut gefährdet“. Damit steigen auch die Risiken für ausländische Unternehmen.

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Der türkische Präsident Erdogan hat nach dem Putschversuch mehr als 10.000 Verdächtige festnehmen lassen. Quelle: AP

Berlin Jens Gnisa ist seit diesem Frühjahr Vorsitzender des Deutschen Richterbundes (DRB), dem Berufsverband der Richter und Staatsanwälte in Deutschland. Im Interview spricht er über die Folgen des Putschversuchs in der Türkei und die „Säuberungen“, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan praktiziert.

Herr Gnisa, der türkische Staatspräsident Erdogan geht seit Tagen massiv gegen mutmaßliche Beteiligte des Putschversuchs vor. Auch Richter und Staatsanwälte geraten zunehmend unter Druck. Wie bewerten Sie die Vorkommnisse?
Die Verhältnisse in der Türkei sind schon länger besorgniserregend. Richter werden drangsaliert, erhalten Reiseverbote. Offensichtlich wird versucht, die Justiz als mögliche Gegenspielerin Erdogans einzuschüchtern und zu entmachten. Nach dem Putsch hat die Situation nun eine neue Qualität.

Warum?

Tausende Richter wurden aus dem Dienst entfernt und verhaftet, schon wenige Stunden nach dem Beginn des Putsches.

Es ist unmöglich, innerhalb so kurzer Zeit festzustellen, wer daran beteiligt gewesen ist und wer nicht. Es ist also anzunehmen, dass Erdogan den Putsch als Vorwand genommen hat, um missliebige Richter aus dem Verkehr zu ziehen.

Was sind die Folgen dieser „Säuberungen“, wie die türkische Regierung es nennt?

Der Rechtsstaat ist in der Türkei akut gefährdet. Die richterliche Unabhängigkeit ist ein ganz wesentliches Kriterium für den Rechtsschutz des Bürgers und der Unternehmen. Sie garantiert, dass die Gerichte nur an das Gesetz und nicht an politische Vorgaben gebunden sind. Ist die richterliche Unabhängigkeit nicht gewährleistet, kann ein Fall von der Politik durch Anweisungen in eine bestimmte Richtung gelenkt und damit nicht allein nach Recht und Gesetz entschieden werden. Das sehen wir in der Türkei nun genau so kommen.

Womit müssen Unternehmen nun konkret rechnen?

Im Falle eines Interessenkonflikts zwischen einem ausländischen Unternehmen und einem ortsansässigen Politiker oder Unternehmer, der über gute Kontakte zur Regierung verfügt, fehlt es dann an Rechtssicherheit. Das ausländische Unternehmen kann sich nicht sicher sein, die Justiz und das Recht im Rücken zu haben. Es muss damit rechnen, dass Investitionen verloren gehen. Gehen Streitigkeiten, etwa um ein Grundstück oder einen Auftrag vor Gericht, wird die Klage des ausländischen Unternehmers dann vermutlich wenig Aussicht auf Erfolg haben.

Was muss aus Ihrer Sicht nun geschehen?

Die rechtsstaatlichen Garantien insgesamt sind aktuell in der Türkei nicht mehr gewährleistet. Die Politik muss die türkische Regierung unter Druck setzen. Die Justiz vor Ort wird sich nicht mehr alleine helfen können.

Herr Gnisa, wir danken für das Gespräch.

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