Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat daraus längst die Konsequenzen gezogen. Er weiß, dass er der deutschen Bundesregierung völlig nach Belieben auf der Nase herumtanzen kann. In der Welt des Vorderen Orient hat man einen guten Riecher für die Schwäche von Politikern. Und man pflegt diese erbarmungslos zur eigenen Stärke zu machen. Seinen von türkisch-nationalistischem Eifer geplagten Anhängern zuhause und in Deutschland selbst bietet Erdoğan daher ein Crescendo der hanebüchensten Beleidigungen gegen den Staat, der den seinen seit Jahrzehnten mit Milliarden-Zahlungen unterstützt und Millionen von Türken eine neue und offensichtlich bessere Heimat bieten kann als er selbst.
Ob in Duisburg-Marxloh oder in Istanbul kann er sich daher so präsentieren, wie es ihm gefällt: Als „Reis“ (so der Titel eines aktuellen türkischen Propaganda-Films, der auch in deutschen Kinos läuft), als Chef also, der die Seinen beschirmt und die Feinde vor sich hertreibt.
Zitate von Deniz Yücel
„Die AKP von heute ist kaum mehr als Erdogans Privateigentum. Dass er es geschafft hat, seine Partei derart unter seine Kontrolle zu bringen, liegt am Parteienrecht […], das jeden Parteichef zu einem König macht. Und es liegt am System von Begünstigungen und ökonomischen Abhängigkeiten, das er erschaffen hat und schließlich an seiner Politik der Polarisierung.“
„Nur klingt das Wort von der ‚Demokratie‘ in der Türkei der Gegenwart immer fremder. Welche demokratischen Rechte kann es für die Kurden in Tayyipistan geben? Um welche Demokratisierung kann es gehen in einem Land, in dem parallel drei Prozesse stattfinden – die Islamisierung der Gesellschaft, die Autoritarisierung des Staates und die Entfaltung eines entfesselten Kapitalismus.“
„Niemand in der Türkei, der alle Tassen im Schrank hat, ist dagegen, diesen Krieg [zwischen der türkischen Regierung und der PKK, Anmerkung der Redaktion] endlich zu beenden. Aber mehr und mehr linke und liberale Oppositionelle sehen diesen Aussöhnungsprozess inzwischen kritisch – nicht weil sie ihn grundsätzlich ablehnen, sondern der Regierung wie der PKK vorwerfen, diesen Prozess nicht transparent zu gestalten.“
„‚Eine Tonleiter umfasst sieben Töne. Die Frage, welcher der Töne ,besserʻ sei: Do, Re oder Mi, ist eine unsinnige Frage. Der Musikant muss aber wissen, wann und auf welche Taste er zu schlagen hat.ʻ Dieses in einem anderen Zusammenhang gesagte Wort von Trotzki habe ich stets für eine gute Maxime beim Schreiben und Blattmachen gehalten.“
„So gibt es einige wenige Texte, von denen ich wünschte, ich hätte sie geschrieben. Und es gibt einige Texte und Formulierungen, die ich besser nicht geschrieben hätte.“
Während der Bundespräsident und ein großer Teil der deutschen Spitzenpolitiker ihre eigene Inkonsequenz in der Frage der Propaganda-Auftritte von Erdoğan und seinen Helfershelfern als Zeichen der Stärke der Meinungsfreiheit schönzureden versuchen, zeigt Erdoğan, was für ihn entscheidend ist: „Wenn ich will, komme ich morgen nach Deutschland“, trompetet er in die Welt.
Die Anspielung ist deutlich: Die Bundesregierung hat schließlich ihre Skrupel vor der Abweisung unerwünschter Personen vor anderthalb Jahren überdeutlich offengelegt und diese Kompetenz anderen, vor allem Erdoğan selbst, übertragen.
Für Deutschland stellen sich mittlerweile fatale Folgefragen: Wenn also Meinungs- und Einreisefreiheit für jedes ausländische Staatsoberhaupt oder Regierungsmitglied, so undemokratisch es auch sei, gilt, was ist dann eigentlich mit Putin? Darf der vor der nächsten Duma-Wahl 2019 auch vor Landsleuten in Berlin auftreten?
Und warum sollen dann nicht auch die Mullahs unter in Deutschland lebenden Iranern und die Saudis unter allen in Deutschland lebenden Sunniten ihre „Meinungen“ offen propagieren dürfen? Nun ja, letztere zumindest tun es ja auch fleißig in den von ihnen finanzierten Moscheen – wenn auch weniger bombastisch als Erdoğan und seine Helfershelfer.
Tatsächlich vermitteln die deutschen Behörden, die Zivilgesellschaft und vor allem das Gros der politischen Verantwortungsträger Erdoğan und anderen Propagandisten antiwestlicher, undemokratischer Ideologien in Deutschland eben gerade keinen eindrucksvollen Beweis für das, was Meinungsfreiheit bedeutet, sondern vielmehr einen Beleg für die fatale Unentschlossenheit Deutschlands, die Bedingungen dieser Freiheit zu verteidigen. Deutsche Politiker und andere selbst erklärte Zivil-Couragierte zeigen sich stets lautstark gegen Feinde, die ihnen nicht wirklich gefährlich werden können und keine Machtmittel besitzen.
Wenn es wirklich darum geht, Mut und Standhaftigkeit zu beweisen, Verantwortung zu übernehmen, also persönliche Risiken einzugehen, sieht es leider anders aus. Von dem „Mut“, den der künftige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach seiner Wahl in der Bundesversammlung einforderte, ist nicht viel zu spüren. Bei Steinmeier selbst auch nicht. Wenn der deutsche Staat in der ungemütlicher werdenden Welt der Wirklichkeit nicht zur Beute werden will, muss sich das unbedingt ändern.