Ukraine-Krieg „Russland ist seiner eigenen Propaganda zum Opfer gefallen“

Estland ehemaliger Spionagechef Mikk Marran Quelle: imago images

Estlands früherer Spionagechef Mikk Marran spricht im Interview über Moskaus Geheimdienstversagen, Cyber-Krieg und ob die westliche Entschlossenheit den Winter überdauern wird – besonders mit Blick auf die Energiekrise.

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Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar ist Estland einer der entschlossensten Unterstützer Kiews und zeigt sich kompromisslos, wenn es um Russland geht. Die Esten waren in den letzten Jahren selbst Opfer russischer Desinformation und von Cyberangriffen und litten davor unter der sowjetischen Besatzung und Deportationen. Daher machen sie sich wenig Illusionen über die Fähigkeiten ihres östlichen Nachbarn. Aufgrund dieser Erfahrungen konnte der Auslandsgeheimdienst des Landes, der Välisluureamet, detaillierte Einblicke aus erster Hand in die Arbeitsweise Moskaus sammeln und seine Schwächen. Mikk Marran war fast sieben Jahre lang Chef des estnischen Auslandsgeheimdiensts, bis er Ende Oktober zurücktrat, um einen neuen Posten als Geschäftsführer des staatlichen Forstwirtschaftszentrums anzutreten.

Unser Partner Foreign Policy sprach mit Marran über das russische Versagen im Geheimdienst, den Cyber-Krieg und darüber, dass Russland noch nicht abgeschrieben werden sollte. Besondere Aktualität erhält das Gespräch durch den jüngsten russischen Hackerangriff auf das EU-Parlament. Das Gespräch wurde für eine bessere Verständlichkeit redaktionell gekürzt.

Foreign Policy: Es ist rätselhaft, wie stark Russland die Ukraine vor der Invasion missverstehen konnte. Wenn es ein Land auf der Welt gibt, das Moskau hätte verstehen müssen, dann die Ukraine. Und doch schienen sie blind für die grundlegendsten Strukturen des Landes zu sein. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Mikk Marran: Vor allem an Korruption. Sie ist das größte Problem in der russischen Regierung, in den Verteidigungstruppen und den Geheimdiensten. Ich gehe davon aus, dass die Budgets für die Rekrutierung und den Ausbau der internen Netzwerke in die Taschen der zuständigen Mitglieder geflossen sind. Abgesehen davon muss auch die [Natur] der Diktatur beachtet werden: Die Geheimdienste achten genau darauf, was sie an den Kreml übermitteln. Die Führung erreichten vermutlich nicht die [präzisesten] Informationen. Drittens glaube ich, dass sie ihrer eigenen massiven Propaganda zum Opfer gefallen sind und diese inzwischen selbst glauben.

Als vierten Punkt würde ich hinzufügen, dass Russland dazu neigt, sich zu verkalkulieren – der Beginn des Krieges war eine riesige Fehlkalkulation. Deshalb denke ich, dass die Mobilisierung nur eine weitere Büchse der Pandora geöffnet hat, durch die der Krieg viel dichter an russische Häuser und Familien getragen wird.

Russland hat lange versucht, sich wieder als Global Player ins Spiel zu bringen – sowohl mit klassisch diplomatischen Mitteln als auch mit der sogenannten Grauzonentaktik. Wie wirksam waren diese Maßnahmen mit Hinblick auf die Invasion? Zahlen sie sich für Moskau aus?
Aktuell zahlen sie sich nicht aus. Gleichzeitig würde ich aber sagen, dass Russland vor dem Krieg eine recht gute Position im Westen hatte. Doch diese wurde nach dem 24. Februar vergiftet. [Hätte Russland nicht im Februar den Krieg begonnen], wäre seine Position im Westen gestärkt worden und es hätte mehr Einfluss nehmen können. Jetzt wird es eher schwierig werden, seine ehemalige Stellung in den verschiedenen Ländern wiederherzustellen.

Gleichzeitig sollten wir nicht davon ausgehen, dass der russische Geheimdienst schläft. Er erledigt immer noch seine Arbeit und sucht vermutlich bereits nach alternativen Möglichkeiten zur Einflussnahme. Aktuell lässt sich eine Konzentration auf Afrika beobachten. In diesen Regionen der Welt üben sie viel mehr Macht aus. Der Westen ist natürlich geschlossen aufgetreten: Die westlichen Sicherheitsdienste sind mit harter Hand vorgegangen und haben russische Angestellte und Spione aus verschiedenen Hauptstädten vertrieben. Daher denke ich zusammenfassend, dass sich Russlands Maßnahmen nicht ausgezahlt haben.

Aber wie sieht es nun mit der Position in Afrika, Nahost, Süd- und Ostasien aus? Dort scheint sich das russische Kriegsnarrativ langsam durchzusetzen.
Das stimmt. Wie ich schon sagte, versucht Russland seinen Einfluss auf diese Regionen auszuweiten. Sie hatten dort schon vor dem Krieg einen guten Stand. Aktuell steckt Russland seine diplomatischen Bemühungen also in diese Regionen, weil Moskau bewusst ist, dass sie die Einstellung von Europa [oder] den USA nicht als Ganzes verändern können. In afrikanischen Ländern erhoffen sie sich mehr Erfolg. In Mali versuchen sie beispielsweise Frankreich seine Position streitig zu machen und stellen Russland als ein Land dar, dass wirtschaftliche und andere Hilfen verspricht.

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Wie zuversichtlich sind Sie, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine den Winter über anhalten wird – vor allem mit Blick auf steigende Energiepreise, eine zunehmende Inflation und die Aussicht auf eine Rezession? Wird Russland neue Vorstöße wagen?
Da bin ich recht optimistisch. Ich glaube, dass der Westen sich in großen Teilen einig war oder ist, schließlich hat er die Ukraine mit verschiedensten Waffensystemen beliefert. Doch natürlich könnten wir mehr tun. Ich würde mir noch mehr Unterstützung aus allen westlichen Ländern wünschen, vor allem in Form von Waffensystemen mit größerer Reichweite.

Wie hat sich die Einschätzung der russischen Bedrohung unter westlichen Geheimdienstchefs gewandelt? Lange Zeit wirkte es so, dass Estland, das Baltikum und Polen Moskau vor dem Krieg viel realistischer einschätzten als der Rest des Westens.
Ich glaube, das liegt daran, dass wir eben in diesem Teil der Welt leben. Wir hatten nicht den Luxus, uns auf andere Themen zu konzentrieren. Für die Geheimdienste in Estland und den anderen baltischen Staaten war Russland immer das Hauptthema. Aber ich würde trotzdem sagen, dass die westlichen Geheimdienste große Fortschritte gemacht haben.

Das begann schon 2008 nach dem Krieg in Georgien [und] noch mehr nach 2014 – und natürlich jetzt nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine im Februar. Ich denke, jeder hat verstanden, dass Russland ein Problem ist und für lange Zeit eines bleiben wird. Aber wir müssen verstehen, dass größere westliche Geheimdienste nicht den Luxus haben, sich nur auf ein Thema zu konzentrieren. Es gibt China, Terrorismus, Migration, und alles hängt ab von der eigenen geopolitischen Lage. So ist Russland für Portugal wahrscheinlich nicht so wichtig wie für uns in Estland.

von Sonja Álvarez, Max Biederbeck, Thomas Kuhn, Silke Wettach

Soweit öffentlich bekannt ist, gab es keine [schädlichen] Cyberattacken auf die Ukraine, die das Stromnetz oder die Infrastruktur lahmgelegt hätten. Das wurde im Vorfeld des Krieges anders erwartet. Leisten die Russen zu wenig oder sind die Ukrainer einfach stark aufgestellt?
Ich denke, dass der Cyberkrieg im Vergleich zu den traditionellen Kampfmethoden nicht den gleichen Stellenwert hat. Viele westliche Länder, darunter auch Estland, waren ein wenig enttäuscht, weil wir von Russland etwas mehr erwartet hatten. Natürlich haben wir verschiedene schwächere Angriffe verzeichnet. Wir haben in den ersten Tagen des Krieges eine Kostprobe der russischen Cyberfähigkeiten gegen die Ukraine bekommen, Damals war es intensiv, [aber] nichts wirklich Außergewöhnliches. Sowohl die Ukraine als auch der Westen waren recht gut auf Cyberattacken vorbereitet. Die Ukraine wurde bei der Abwehr dieser Angriffe von großen westlichen [Informationstechnologie-]Unternehmen und Regierungsstellen unterstützt. Auch die estnischen Cyberabwehrbehörden waren und sind auf anspruchsvollere Angriffe vorbereitet. Der Westen war also recht gut auf diese Attacken vorbereitet.

Wir sollten uns nicht zu sehr in Sicherheit wähnen. Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass die größeren Waffen und Angriffswege noch nicht eingesetzt worden sind. Das Problem mit Cyberwaffen ist, dass man sie verliert, sobald sie einmal genutzt worden sind. Daher wägen die russischen Dienste vermutlich ab, wann der beste Zeitpunkt für ihren Einsatz ist.

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Viele Berichte drehen sich um die überraschende Schwäche des russischen Militärs und seine strategischen Fehler. Ist es zum jetzigen Zeitpunkt falsch, Moskau und die Fähigkeiten seiner Armee zu unterschätzen?
Das sollten wir keinesfalls tun. In unserer Ecke von Europa tun wir das nie. Die russischen Streitkräfte und die Führung können immer noch aus ihren Fehlern lernen. Und ich glaube, sobald der Krieg in ferner Zukunft vorbei ist, werden sie wieder eine große Reform durchführen. Eben weil sie festgestellt haben, dass die Struktur, die sie aufgebaut hatten, nicht funktioniert. Einige Personen denken, dass es mehr Truppen in Richtung Westeuropa, Richtung ganz Europa, geben wird, besonders weil Finnland und Schweden der Nato beitreten werden. Der Fokus wird also wieder einmal auf den westlichen Militärgebiet Russlands liegen.

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Übersetzung: Michelle Winner

Dieser Beitrag ist zuerst bei unserem Kooperationspartner Foreign Policy erschienen.

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