Union und SPD Der Verfall der Volksparteien verändert die Wirtschaftspolitik

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Blockade statt Kompromiss

Konstellationen mit mehreren kleineren Partnern führen zu einem zweiten Problem. Es gibt mehr Veto-Mächte, die Blockade-Gefahr schon bei den Koalitionsverhandlungen wächst. Die FDP hat das mit ihrem Jamaika-Aus bewiesen. In der Regierung droht ähnliches Verhalten. Mit jedem Partner im Bündnis steigt die Wahrscheinlichkeit einer Blockade.

Einzelfallpolitik statt Gemeinwohlorientierung

Dazu kommt die erhöhte Schwierigkeit, sinnvolle Kompromisse zu formen. „Wenn mehrere inhomogene Gruppen miteinander koalieren müssen, wird es natürlich schwerer widerspruchsfreie Politiken zu entwerfen“, sagt Politologe Merkel. Während die Schnittmengen zwischen Union und FDP oder SPD und Grünen traditionell hoch sind und sich Union und SPD seit Jahren annähern, sind die politischen Gräben zwischen CSU und Grünen oder Linkspartei und CDU weiterhin so breit, dass Kompromisse im Koalitionsfall viel größeres Einlenken erfordern. Das kann funktionieren und innovative Politik hervorbringen – oder in Blockade und Stillstand enden.

von Sven Böll, Marc Etzold, Max Haerder, Thomas Schmelzer

Thomas Straubhaar tourt gerade mit seinem Buch über das Grundeinkommen durchs Land. Nach den Lesungen dürfen die Zuschauer Fragen stellen – und sprechen einen Punkt garantiert an. Es dauere nicht lange, erzählt Straubhaar, dann käme die Frage auf, ob es nicht auch Sonderregelungen beim Grundeinkommen geben müsse. Zum Beispiel für Alleinerziehende. Oder für Studenten. Oder für Menschen mit körperlichen Handicaps. Schnell falle dann immer mehr Besuchern auf, dass gerade für ihre spezielle Lebenssituation eine Spezialregel notwendig sei. Straubhaar kann diese Nachfragen und Sorgen verstehen. Und trotzdem findet er die Reaktion seiner Zuschauer symptomatisch für ein größeres Problem: Der Bürger als typischer Normalfall verschwindet. Er ist nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Die Varianz der Lebensstile nimmt zu. „Deswegen wird es unfassbar schwierig, allgemein gültige Normen zu entwickeln, die von allen akzeptiert werden“, sagt Straubhaar.

Während die Volksparteien trotzdem schon aus strategischen Gründen eine auf den Durchschnitt zentrierte Politik machen, bieten die kleineren Parteien viel gezieltere Politikangebote an. Mit dem Zerfall der Volksparteien könnte also nach und nach die Gemeinwohl-Politik verschwinden und durch Spezialpolitik ersetzt werden. Das wäre für Ökonom Straubhaar genau der falsche Ansatz. Er schlägt, kaum verwunderlich für einen Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens, die entgegengesetzte Richtung vor: „So paradox es klingt“, sagt Straubhaar. „Je kleinteiliger die Interessen der verschiedenen Milieus werden, desto gröber und transparenter müssen die politischen Antworten darauf sein.“

Sozialprotektionismus statt Marktwirtschaft

Falls die Volksparteien weiter zerfallen, werden solche politischen Antworten in Zukunft allerdings kaum marktwirtschaftlicher oder liberaler ausfallen, glaubt Politologe Merkel. Abgesehen von der FDP vertrete keine der kleineren Parteien besonders wirtschaftsfreundliche Positionen. Die AfD hat sich längst von ihren neoliberalen Anfängen entfernt und tritt heute als sozialprotektionistische Bewegung auf. Die Linkspartei nimmt naturgemäß kritische Positionen zur Wirtschaft ein. Die Grünen haben einen Hang zur Überregulierung. Selbst die FDP sei vor allem eine „Klientelpartei“. Die Volksparteien dagegen zielten noch immer auf den Durchschnittswähler, erklärt Merkel. „Und den erreicht man tendenziell eher mit wirtschaftsfreundlicher Politik.“ Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse ist einfach: Je weiter Union und SPD ausfransen und zerfallen, desto weniger marktwirtschaftlich wird die Programmatik der deutschen Wirtschaftspolitik.

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