Union und SPD Der Verfall der Volksparteien verändert die Wirtschaftspolitik

SPD-Flaggen im Regen Quelle: dpa Picture-Alliance

Die Volksparteien fallen in sich zusammen. Das zerstört nicht nur alte Gewissheiten, sondern wälzt die Wirtschaftspolitik um. Vier Entwicklungen, die künftig besonders wichtig werden können.

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Diese Zahlen müssen den Politikern der Volksparteien einen Schauder über den Rücken jagen.

Die Union würde nach aktuellen Umfragen bei neuen Bundestagswahlen nur noch 32 bis 34 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Die SPD ist nach den ohnehin schon desaströsen 20,5 Prozent bei den Bundestagswahlen noch weiter abgerutscht und steckt zwischen 15,5 und 19 Prozentpunkten fest. Zusammen überspringen die Volksparteien allenfalls noch knapp die Marke von 50 Prozent. Die Zahlen stammen aus Umfragen der vergangenen Tage – und markieren den vorläufigen Höhepunkt eines langsamen aber vielleicht unaufhaltsamen Prozesses: Die deutschen Volksparteien sterben aus.

Strukturwandel, Globalisierung, Digitalisierung – das sind die Stichworte, die üblicherweise zur Erklärung herangezogen werden. Dazu kommt die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die wiederrum ein Ergebnis dieser Entwicklungen ist. Während es früher im Wesentlichen Arbeiter und Bürger gab, spreizt sich die Gesellschaft heute auf in Programmierer mit urbaner Altbauwohnung und Arbeiter-Paare mit Einfamilienhaus auf dem Land. In Ingenieure mit üppigen Festanstellungen und Grafiker mit Auftragsarbeiten. In Hipster und Ökos, Arbeitslose und Rentner, Alleinerziehende und Startup-Workaholics, Künstler und Windparkgegner.

Der Durchschnittsdeutsche verschwindet langsam. Was man früher als die gesellschaftliche Normalität betrachtete, erodiert. Damit fällt die Geschäftsgrundlage der Volksparteien weg. Jahrzehntelang haben sie sich mit Erfolg auf den Durchschnitt konzentriert. Das funktioniert nicht mehr. Stattdessen erfüllen andere Parteien das Repräsentationsbedürfnis der neuen Milieus. Die Grünen umgarnen Akademiker mit viel Geld und Biomarkt-Affinität. Die Linke setzt sich für Zurückgelassene ein. Die AfD bedient die Abstiegsangst der von Globalisierung und Digitalisierung bedrohten Mittelschicht. Das Ergebnis: Vor 40 Jahren verteilten drei Parteien die Sitze im Bundestag unter sich. Heute sind es sechs Parteien. Statt über 90 Prozent vereinen Union und SPD nur noch knapp die Hälfte aller Wählerstimmen auf sich.

Der Politologe Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin beobachtet diese Erosion der einstigen Volksparteien seit Jahren. Er ist überzeugt, dass sich der Prozess nicht mehr zurückdrehen lässt. Genauso sieht es der Ökonom Thomas Straubhaar von der Universität Hamburg. Beide glauben, dass die neue Vielfalt der Parteienlandschaft auch die Wirtschaftspolitik verändern wird. Diese vier Entwicklungen dürften besonders wichtig werden:

Zick-Zack-Kurs statt Stabilität

Wenn Politologe Merkel über Volksparteien spricht, zieht er gerne einen maritimen Vergleich heran. Union und SPD bewegen sich demnach wie schwere Tanker auf See: nicht so wendig, nicht so agil, aber dafür stabil, wenn sie ihren Kurs einmal eingeschlagen haben. Die kleineren Parteien sind dagegen Schnellboote. Flink, mit rascher Beschleunigung, aber eher unbeständig, wenn es darum geht, den Kurs auch bei schwerem Wellengang zu halten.

Für die Volksparteien ist diese Behäbigkeit eher ein Nachteil und trägt zu ihrer Schwäche bei. Bis heute hadert die SPD mit Schröders Agenda 2010. Bis heute meckern die Konservativen in der CDU über Merkels Sozialdemokratisierung der Partei.

Für die Wirtschaft ist Planbarkeit dagegen Trumpf. Kaum etwas verfluchen Unternehmer mehr als ständige Kurswechsel. Kaum etwas ist ihnen wichtiger als politische Stabilität. Bündnisse aus einer Volkspartei plus Juniorpartner oder Große Koalitionen versprachen und erfüllten diese Stabilität meistens. Konstellationen mit drei oder mehr Parteien, die in Zukunft bevorstehen dürften, tendieren dagegen zu Wendemanövern. Für die Wirtschaft bedeutet das Unsicherheit – und womöglich weniger Investitionen.

Blockade statt Kompromiss

Konstellationen mit mehreren kleineren Partnern führen zu einem zweiten Problem. Es gibt mehr Veto-Mächte, die Blockade-Gefahr schon bei den Koalitionsverhandlungen wächst. Die FDP hat das mit ihrem Jamaika-Aus bewiesen. In der Regierung droht ähnliches Verhalten. Mit jedem Partner im Bündnis steigt die Wahrscheinlichkeit einer Blockade.

Einzelfallpolitik statt Gemeinwohlorientierung

Dazu kommt die erhöhte Schwierigkeit, sinnvolle Kompromisse zu formen. „Wenn mehrere inhomogene Gruppen miteinander koalieren müssen, wird es natürlich schwerer widerspruchsfreie Politiken zu entwerfen“, sagt Politologe Merkel. Während die Schnittmengen zwischen Union und FDP oder SPD und Grünen traditionell hoch sind und sich Union und SPD seit Jahren annähern, sind die politischen Gräben zwischen CSU und Grünen oder Linkspartei und CDU weiterhin so breit, dass Kompromisse im Koalitionsfall viel größeres Einlenken erfordern. Das kann funktionieren und innovative Politik hervorbringen – oder in Blockade und Stillstand enden.

von Sven Böll, Marc Etzold, Max Haerder, Thomas Schmelzer

Thomas Straubhaar tourt gerade mit seinem Buch über das Grundeinkommen durchs Land. Nach den Lesungen dürfen die Zuschauer Fragen stellen – und sprechen einen Punkt garantiert an. Es dauere nicht lange, erzählt Straubhaar, dann käme die Frage auf, ob es nicht auch Sonderregelungen beim Grundeinkommen geben müsse. Zum Beispiel für Alleinerziehende. Oder für Studenten. Oder für Menschen mit körperlichen Handicaps. Schnell falle dann immer mehr Besuchern auf, dass gerade für ihre spezielle Lebenssituation eine Spezialregel notwendig sei. Straubhaar kann diese Nachfragen und Sorgen verstehen. Und trotzdem findet er die Reaktion seiner Zuschauer symptomatisch für ein größeres Problem: Der Bürger als typischer Normalfall verschwindet. Er ist nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Die Varianz der Lebensstile nimmt zu. „Deswegen wird es unfassbar schwierig, allgemein gültige Normen zu entwickeln, die von allen akzeptiert werden“, sagt Straubhaar.

Während die Volksparteien trotzdem schon aus strategischen Gründen eine auf den Durchschnitt zentrierte Politik machen, bieten die kleineren Parteien viel gezieltere Politikangebote an. Mit dem Zerfall der Volksparteien könnte also nach und nach die Gemeinwohl-Politik verschwinden und durch Spezialpolitik ersetzt werden. Das wäre für Ökonom Straubhaar genau der falsche Ansatz. Er schlägt, kaum verwunderlich für einen Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens, die entgegengesetzte Richtung vor: „So paradox es klingt“, sagt Straubhaar. „Je kleinteiliger die Interessen der verschiedenen Milieus werden, desto gröber und transparenter müssen die politischen Antworten darauf sein.“

Sozialprotektionismus statt Marktwirtschaft

Falls die Volksparteien weiter zerfallen, werden solche politischen Antworten in Zukunft allerdings kaum marktwirtschaftlicher oder liberaler ausfallen, glaubt Politologe Merkel. Abgesehen von der FDP vertrete keine der kleineren Parteien besonders wirtschaftsfreundliche Positionen. Die AfD hat sich längst von ihren neoliberalen Anfängen entfernt und tritt heute als sozialprotektionistische Bewegung auf. Die Linkspartei nimmt naturgemäß kritische Positionen zur Wirtschaft ein. Die Grünen haben einen Hang zur Überregulierung. Selbst die FDP sei vor allem eine „Klientelpartei“. Die Volksparteien dagegen zielten noch immer auf den Durchschnittswähler, erklärt Merkel. „Und den erreicht man tendenziell eher mit wirtschaftsfreundlicher Politik.“ Die Schlussfolgerung aus dieser Analyse ist einfach: Je weiter Union und SPD ausfransen und zerfallen, desto weniger marktwirtschaftlich wird die Programmatik der deutschen Wirtschaftspolitik.

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