Union und SPD sondieren Neue Regierung vor gewaltigen Aufgaben

Hoffnung und Erfolgsdruck prägen die Sondierungen. Größte Streitpunkte sind die Flüchtlingspolitik und die Bürgerversicherung. Doch auch bei anderen Themen gehen die Meinungen auseinander.

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Merkel unterstrich, dass Union und SPD für die Fortsetzung der großen Koalition sehr wohl einen Auftrag der Wähler hätten. Quelle: Reuters

Berlin Ungeachtet des hohen Zeit- und Erfolgsdrucks sind die Spitzen von CDU, CSU und SPD zuversichtlich in die offiziellen Sondierungen für eine Regierungsbildung gestartet. Alle Seiten machten am Sonntag zu Beginn der Gespräche in Berlin deutlich, dass Deutschland dringend Reformen brauche. Trotz deutlicher Differenzen signalisierten sie Kompromissbereitschaft. CDU und CSU streben eine stabile große Koalition an. Die SPD lässt offen, ob sie eine Neuauflage der noch amtierenden schwarz-roten Regierung oder andere Formen der Zusammenarbeit ermöglichen will.

Nach den Worten von Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) muss Europa im Zentrum eines möglichen Koalitionsvertrages von Union und SPD stehen. Gabriel sagte am Abend in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“, die große Koalition habe 2013 den Fehler gemacht, dass sie sich mehr auf die Innenpolitik konzentriert habe und zu wenig auf Europa. Es werde endlich Zeit, dass Deutschland eine Antwort auf die Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron gebe. SPD-Chef Martin Schulz will die EU bis 2025 in die Vereinigten Staaten von Europa mit einem gemeinsamen Verfassungsvertrag umwandeln.

Die CDU-Vorsitzende, Kanzlerin Angela Merkel, betonte, auf eine neue Bundesregierung warteten gewaltige Aufgaben. Kritiker hatten ihr sowie SPD und CSU in der Vergangenheit wiederholt mangelnden Reformwillen vorgehalten. Die Vorsitzenden von SPD und CSU, Schulz und Horst Seehofer, machten daraufhin klar, ein „Weiter so“ dürfe es mit der neuen Regierung nicht geben.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sagte, Deutschland brauche eine „Innovationskoalition“, die einen Schwerpunkt bei Bildung und Forschung setze. Bei der Migrationspolitik sei eine Befriedung nötig. „Da ist es zwingend, dass jetzt Recht und Gesetz gilt in jedem Bereich.“ Der Familiennachzug müsse für jene ausgesetzt bleiben, die keine dauerhafte Bleibeperspektive hätten.

Größte Streitpunkte sind die Migrations- und Flüchtlingspolitik sowie eine von der SPD geforderte einheitliche gesetzliche Bürgerversicherung für das Gesundheitswesen. Probleme dürfte es außerdem bei dem Thema Europa und bei Steuerfragen geben. Merkel, Schulz und Seehofer sind nach ihren schlechten Ergebnissen bei der Bundestagswahl angeschlagen und auf einen Erfolg der Verhandlungen angewiesen.

Schulz sagte vor Beginn der Sondierung, Politik und Staat müssten modernisiert und Deutschland insgesamt auf den Stand der Zeit gebracht werden. Die SPD werde ergebnisoffen sondieren, bekräftigte Schulz. Aber: „Wir ziehen keine roten Linien, sondern wir wollen möglichst viel rote Politik in Deutschland durchsetzen.“ Auch Seehofer sagte, er wolle nicht schon mit Bedingungen in die Gespräche starten.

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die als Kritikerin einer Neuauflage der großen Koalition galt, sagte am Rande des ersten Treffens: „Alle müssen jetzt vernünftig und sachlich aufeinander zugehen.“ Ein Fokus liege auf besserer Bildung. „Da muss der Bund zukünftig mehr im Bereich Schule tun.“ Auf die Frage, ob eine schwarze Null im Haushalt stehen müsse, erwiderte sie: „Ja.“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) betonte, vor allem für die SPD müsse jetzt ein Angebot für den Parteitag entwickelt werden, damit man anschließend in Koalitionsverhandlungen einsteigen könne. Für den Osten sei unter anderem eine weitere Angleichung der Lebensverhältnisse wichtig und eine „klare Ansage zur Kohle, ohne die Klimaziele in Frage zu stellen“. Sein Kollege Kretschmer will für die Braunkohleregionen „eine Perspektive von mindestens 30 Jahren, um einen Strukturwandel anfangen zu können“.

Merkel unterstrich, dass Union und SPD für die Fortsetzung der großen Koalition sehr wohl einen Auftrag der Wähler hätten. Zuletzt war dies wegen der schlechten Wahlergebnisse der drei Parteien in Zweifel gezogen worden. Es gehe darum, auch in fünf bis zehn Jahren in Wohlstand und in einer Demokratie leben zu können. Die Sondierungen seien gut vorbereitet worden: „Ich glaube, es kann gelingen“, sagte die CDU-Vorsitzende.

Am Sonntagvormittag setzte sich zunächst die Sechser-Runde der Parteichefs und Fraktionsspitzen zusammen. Am Nachmittag befassten sich die insgesamt 39 Unterhändler aller Seiten in 14 Fachgruppen mit konkreten Arbeitsplänen. Zur ersten Runde traf man sich im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Zentrale. In den kommenden Tagen wollen die Parteien abwechselnd auch in der CDU-Zentrale und in der bayerischen Landesvertretung beraten.

Die bisherigen Regierungspartner werden wohl bis in die Nacht zum Freitag ausloten, ob sie ihren Parteigremien Koalitionsverhandlungen über eine Neuauflage von Schwarz-Rot empfehlen können. Die SPD-Spitze braucht dafür die Zustimmung eines Parteitags, der am 21. Januar in Bonn stattfinden soll und als große Hürde gilt.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, forderte in einem außergewöhnlichen Appell in der „Rheinischen Post“ eine rasche Regierungsbildung, um weiteren politischen Schaden vom Land abzuwenden.

Für Juso-Chef Kevin Kühnert ist es unerheblich, wenn ein Scheitern der Regierungsbildung zum politischen Aus von SPD-Chef Schulz führen würde. „Es geht um Inhalte und die Positionierung im Parteiensystem der Bundesrepublik“, sagte Kühnert dem „Handelsblatt“.

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