Urteil aus Karlsruhe Deutsches Wahlrecht ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat zentrale Bestimmungen des Rechts für Bundestagswahlen mit sofortiger Wirkung für ungültig erklärt. Damit muss noch vor der Wahl im kommenden Jahr ein neues Wahlrecht beschlossen werden.

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Bundestag Quelle: dapd

Das Wahlrecht zum Bundestag verstößt gegen das Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht erklärte am Mittwoch zentrale Bestimmungen für die Verteilung der Abgeordnetensitze mit sofortiger Wirkung für unwirksam. Damit gibt es derzeit kein wirksames Recht für die Sitzverteilung bei Bundestagswahlen. Der Bundestag muss spätestens im Oktober nächsten Jahres neu gewählt werden. Bis dahin muss der Gesetzgeber ein neues Wahlrecht schaffen.

Die Verteilung der Abgeordnetensitze „verstößt in mehrfacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit“, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. „Angesichts der Vorgeschichte des neuen Wahlrechts sieht der Senat keine Möglichkeit, den verfassungswidrigen Zustand erneut für eine Übergangszeit zu akzeptieren“, sagte Voßkuhle.

Bereits 2008 hatten die Karlsruher Richter das frühere Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt und innerhalb von drei Jahren eine Neuregelung verlangt. Union und FDP hatten im vergangenen Jahr die Reform des Wahlrechts im Alleingang durchgesetzt. SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger hatten dagegen in Karlsruhe geklagt.

Die Richter beanstandeten vor allem den Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts. Dieses kann dazu führen, dass die Abgabe einer Stimme der jeweiligen Partei bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl im Ergebnis schadet. Grund hierfür ist die Bildung von Sitzkontingenten in den einzelnen Bundesländern.

Die Richter kritisierten auch, dass das Wahlrecht die Möglichkeit zahlreicher Überhangmandate schaffe. Solche Zusatzmandate können entstehen, wenn eine Partei mehr Sitze im Parlament über Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnt, als es ihrem Anteil an Zweitstimmen entspricht. Diese Mandate kommen tendenziell den großen Parteien zugute - bei der vergangenen Bundestagswahl 2009 gingen alle 24 Überhangmandate an die Union.

Überhangmandate seien zwar nicht grundsätzlich verboten, entschieden die Richter. Es dürften jedoch nicht so viele werden, dass sie „den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben“. Die Höchstgrenze liege derzeit bei etwa 15 Überhangmandaten, sagte Voßkuhle.

FDP will Gespräche - SPD feiert "Sieg"

Bundesverfassungsgericht Quelle: dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nimmt das Karlsruher Urteil zum Wahlrecht „mit Respekt zur Kenntnis“. Vize-Regierungssprecher Georg Streiter fügte am Mittwoch in Berlin hinzu, das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung „Klarheit“ geschaffen. Das Urteil müsse nun „sorgfältig und zügig geprüft“ werden. Das Wahlrecht liege aber „in der Hoheit des Parlaments“, fügte Streiter hinzu. Darüber müsse der Bundestag in eigener Zuständigkeit entscheiden. Ein Sprecher des Innenministeriums ließ offen, was passieren würde, wenn bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2013 kein neues Wahlrecht vorliegen sollte: „Wir gehen davon aus, dass bis dahin ein gültiges Gesetz vorliegt.“

Die Koalition hat der Opposition unverzügliche Gespräche über ein neues Wahlrecht angeboten. „Die Tür zu gemeinsamen Verhandlungen steht weit offen“, erklärte der FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert am Mittwoch. Nach seinen Worten wurde mit der Entscheidung in Karlsruhe Rechtssicherheit hergestellt. „Das bewährte deutsche Wahlrecht bleibt in seinen Grundzügen erhalten“, erklärte der FDP-Politiker. Die Änderungswünsche des Gerichts seien „technischer Natur und gut umsetzbar“. Die FDP werde alles dafür tun, dass das neue Wahlrecht noch rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet werden wird.

Die SPD reagierte mit Häme auf das Urteil: Nun habe die schwarz-gelbe Koalition „die Quittung dafür bekommen, dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat“. Der parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann sprach von einem „guten Tag für unsere Demokratie“ und für die Bürger. "Die Koalition muss jetzt reden. Ein erneuter Alleingang ist nicht mehr möglich. Wir stehen für schnelle Gespräche bereit“, fügte Oppermann hinzu. Die SPD habe bereits im vergangenen Jahr einen Vorschlag für ein verfassungskonformes Wahlrecht gemacht. „Gewonnen!“, twitterte Oppermann unmittelbar nach Verkündung des Urteils.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat eine einvernehmliche Lösung angemahnt. Dies sei dringend geboten, „um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden“. Zugleich räumte er ein, dass es „hinreichenden Anlass zu einer selbstkritischen Betrachtung des Verfahrens der Gesetzgebung der nun für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen“ gebe.

Der Verein „Mehr Demokratie“ sprach sich nach der Urteilsverkündung dafür aus, die Überhangmandate ganz abzuschaffen. Es werde ausgesprochen schwierig sein, ein Wahlrecht zu erarbeiten, das die Vorgabe des Verfassungsgericht erfülle, sagte der Vorstandssprecher des Vereins, Michael Efler.

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