
Hamburg, am 24. Oktober 2014 im Fünf-Sterne-Hotel „Atlantic“ an der Außenalster. Helmut Schmidt wird im Rollstuhl in den großen Festsaal gefahren, wo ihn unter Kronleuchtern und stuck- und goldverzierter Decke die Gäste der Verleihung des Helmut-Schmidt-Journalistenpreises mit Applaus begrüßen. Als frühere Preisträgerin bin auch ich eingeladen. Zum 19. Mal wird der Preis für kritischen Wirtschafts- und Verbraucherjournalismus verliehen und fast immer war der Altkanzler anwesend, hielt eine Rede oder ließ sich von prominenten Journalisten interviewen.
Auf der Bühne wartet heute der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert. Schmidt trägt Kopfhörer, die die Fragen verstärken, weil er schon lange schlecht hört – und es dauert keine Minute, bis er sich eine seiner geliebten Zigaretten anzündet.
Wickert beginnt das Gespräch mit Erinnerungen an den kurz zuvor verstorbenen Schriftsteller Siegfried Lenz, den Schmidt „meinen Freund“ nennt. Und er fragt den Altkanzler nach dem Maler Emil Nolde, den Schmidt als „einen der bedeutendsten Künstler“ schon lange bewundert und dessen glühender Glaube an den Nationalsozialismus erst spät bekannt wurde. „Ich habe 1937 durch die Ausstellung ,Entartete Kunst’ und deren Verfemung begriffen, dass die Nazis Verrückte waren. Sehr viel später habe ich auch begriffen, dass sie Verbrecher waren“, sagt Schmidt. Bei Nolde will er Milde walten lassen: „Man sollten bei allen Künstlern nicht so genau hinschauen, was sie politisch für Unsinn geglaubt haben.“
Wickert fragt nach der Euro-Krise. Zu den Problemen in Griechenland kritisiert Schmidt, man habe „leichtfertig jedermann eingeladen, sich am Euro zu beteiligen.“ Statt die Krise zu lösen, „wird viel geredet und wenig getan“, klagt der Pragmatiker und überzeugte Europäer Schmidt.
Auch zur Parteipolitik nimmt der Altkanzler, der sehr gebrechlich wirkt, aber präzise und fast druckreif spricht – wenn auch seine Antworten deutlich knapper ausfallen als vor ein paar Jahren – kein Blatt vor den Mund. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sei ein „guter Mann“, aber „die schwarze Null halte ich für eine schlimme Übertreibung. Ich bin nicht sicher, dass Frau Merkel das ewig mittragen wird.“
Auf die Frage, wann es denn wieder einen SPD-Kanzler geben werde, antwortet Schmidt: „Das weiß ich nicht. Es ist auch nicht so wichtig. Aber der Wechsel ist wichtig.“ Dabei dürften die Liberalen wohl keine Rolle spielen: Der FDP attestiert der Altkanzler, sie habe keine Zukunft, „weil das liberale Prinzip Eigentum der CDU und SPD geworden ist.“





Tief atmet Schmidt den Rauch seiner x-ten Zigarette aus, bevor er zur Ursache der Krim- und Ukraine-Krise erklärt: „Russlands Präsident Putin fühlt sich als legitimer Nachfolger von Zaren wie Katharina der Großen und Peter dem Großen und empfindet sich als benachteiligt durch den Zusammenbruch der Sowjetunion.“
Kritisch sieht er die Lage der Kreditinstitute seit der Finanzkrise: „Ich fürchte, dass noch nicht genug Banken dicht machen mussten. So gehören zum Beispiel alle deutschen Landesbanken geschlossen.“ Auch mit der Deutschen Bank „bin ich nicht so glücklich, wie ich gerne wäre: Sie ist in Wirklichkeit eine englische Bank geworden.“ Und die seien kein Vorbild: Ihr Geschäft und ihr Anteil an der britischen Volkswirtschaft seien viel zu groß geworden.





Während des langen abschließenden Beifalls genießt der Altbundeskanzler noch eine Zigarette. Dann nimmt er am Ehrentisch an der Seite seiner Lebensgefährtin Ruth Loah Platz, bevor die Journalistenpreisträger für ihre Laudatio auf die Bühne kommen.
2015 konnte Schmidt wegen seiner Erkrankung nicht mehr an der Preisverleihung teilnehmen. Der Altkanzler hatte seinen Namen für den seit 1996 verliehenen Preis zur Verfügung gestellt, weil er einen Wirtschaftsjournalismus erwartet, „der es als sein Ziel ansieht, Zusammenhänge durchsichtig zu machen und zum kritischen Nachdenken anzuregen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.