Verstoß gegen das Grundgesetz? Rente mit 63 ist ein Schlamassel mit Ansage

Die Frührente von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ist voller Schlupflöcher und Willkür. Jetzt vermuten Bundestagsjuristen: Die Regeln verstoßen gegen das Grundgesetz.

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Wann die Europäer in Rente gehen
DeutschlandDie Arbeitnehmer in Deutschland sind nach Informationen der „Bild-Zeitung“ im vergangenen Jahr so spät in Rente gegangen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gleichzeitig sanken die Abschläge wegen vorgezogenen Renteneintritts auf den niedrigsten Wert seit 2003, berichtet die Zeitung unter Berufung auf die neueste Rentenzugangsstatistik der Deutschen Rentenversicherung. Danach stieg das durchschnittliche Renteneintrittsalter der Männer 2012 von 60,9 auf 61,2 Jahre. Frauen gingen mit 61 (2011: 60,8) Jahren in Rente. Das waren die höchsten Werte seit mehr als 20 Jahren. Im Jahr 2000 wechselten Männer noch im Schnitt mit 59,8 Jahren aufs Altenteil, Frauen mit 60,5 Jahren. Quelle: dpa
FrankreichAuch in Frankreich ist das Renteneintrittsalter gestiegen: 2009 - vor der Anhebung der Altersgrenze - gingen die Franzosen noch mit durchschnittlich 59,3 Jahren in Pension, 2012 waren sie im Schnitt 62 Jahre und 2 Monate alt (2011: 61 Jahre und 11 Monate). Wer vor seinem 20 Lebensjahr angefangen hat zu arbeiten und in die Rentenkasse einzuzahlen, darf bereits mit 60 Jahren aufs Altenteil wechseln, ohne Abschläge befürchten zu müssen. Quelle: AP
Griechenland2012 haben sich die griechische Regierung und die Troika aus Europäischer Zentralbank, Europäischer Union und Internationalem Währungsfondsdarauf geeinigt, das Renteneintrittsalter in dem Schuldenstaat anzuheben. Seit dem gehen die Griechen - zumindest nach Plan - mit 67 statt wie zuvor mit 65 Jahren in den Ruhestand. 2011 betrug das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechenland 61,4 Jahre. Quelle: dpa
ItalienItalienische Frauen verbringen inzwischen durchschnittlich 27,3 Jahre im Ruhestand, Männer knapp 23. In Rente gehen die Italiener im Schnitt mit 60,8 Jahren. Wenn sie keine Abschläge hinnehmen wollen, müssten sie eigentlich bis 62 arbeiten. Quelle: AP
Spanien2011 hat sich auch die spanische Regierung angesichts eines gigantischen Schuldenberges dazu entschlossen, die Altersgrenze anzuheben: Wie auch in Deutschland und Griechenland soll das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre angehoben werden. Zuvor gingen die Spanier im Schnitt mit 62,6 statt 65 Jahren in Rente. Beschäftigte, die bereits 38,5 Jahre gearbeitet haben, haben allerdings weiterhin ab dem 65 Lebensjahr einen Anspruch auf volle Rentenbezüge. Quelle: dapd
GroßbritannienSeit 2011 gibt es in Großbritannien kein offizielles Rentenalter mehr. Die Briten können also selbst entscheiden, wann sie in den Ruhestand gehen. Zuvor konnten die Briten mit 60 Jahren (Frauen) beziehungsweise 65 Jahren (Männer) die Arbeit Arbeit sein lassen. Das tatsächliche Eintrittsalter lag vor der Abschaffung des Rentenalters bei 63,1 Jahren. Quelle: AP
IrlandDie Iren arbeiten am längsten: So müssen auf der grünen Insel Männer und Frauen noch bis 65 arbeiten und tun es auch - zumindest bis sie (im Durchschnitt) 64,1 Jahre alt werden. Wegen des Schuldenberges der grünen Insel erhöht die irische Regierung nun schrittweise das Rentenalter von 65 auf 68 Jahre. Quelle: AP

Eigentlich war schon im März klar, dass die Rente mit 63 so nicht verfassungsfest sein würde. Schon damals wehrte sich der Wirtschaftsflügel der Union gegen den frühen Ruhestand für alle 63-Jährigen, die mindestens 45 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben. Höchstens fünf Jahre davon dürfen die Nutznießer unter bestimmten Bedingungen arbeitslos gewesen sein.

Ausnahme der Ausnahme

Schon damals war jener Kompromiss auf dem Tisch, der nun im Gesetz steht – und der wahrscheinlich grundgesetzwidrig ist. Damit Arbeitnehmer nicht noch früher, also etwa mit 61 Jahren, in den Ruhestand ziehen können, wurde festgelegt, dass Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahren nicht mehr angerechnet werden dürfe. Von dieser Ausnahme gab es wiederum eine Ausnahme für jene, die mit über 60 noch erwerbslos werden, weil ihre Firma pleite geht oder ganz geschlossen wird.

Und genau hier wird jetzt das Schlamassel mit Ansage sichtbar. Schon im März warnten die Juristen des Bundesinnenministeriums und die des Bundesjustizministeriums, solche Ausnahmen von der Ausnahme seien wohl nicht verfassungsfest. Verstoß gegen Artikel 3 im Grundgesetz, gegen den Gleichheitsgrundsatz. Denn es wirkt wie Willkür, dass die einen noch kurz vor der Rente unverschuldet arbeitslos werden dürfen und trotzdem den Nutzen der Rente mit 63 bekommen - andere aber nicht, die ebenfalls nichts für ihr Schicksal können.

Die wichtigsten Fakten zum Rentenpaket

Ausgerechnet die hauseigenen Juristen des Bundestages sezieren nun das Gesetz von Andrea Nahles, die sich bewusst über die frühen Bedenken hinwegsetzte. Der Wissenschaftliche Dienst des Parlaments erstellte im Auftrag des Grünen-Abgeordneten Markus Kurth ein Gutachten. Das hätte die schwarz-rote Koalition auch vor der Verabschiedung des Gesetzes selbst anfordern können.

Die Bundestagsjuristen beschreiben darin eine wahrscheinlich viel häufigere Situation, in der Menschen arbeitslos werden können. Damit ein Betrieb gar nicht erst insolvent wird, wird ein Teil der Arbeitnehmer betriebsbedingt gekündigt. Auch dafür kann niemand persönlich etwas. Solche Betroffenen dürfen ihre Arbeitslosigkeit aber nicht bei der Rente mit 63 anrechnen lassen, wenn sie ihnen kurz vor der Altersgrenze zustößt. Auch andere Fälle sind denkbar, etwa wenn jemand wegen längerer Krankheit gekündigt wird. Ist das eigenes Verschulden?

Eindeutiges Urteil

Die Expertise kurz nach Verabschiedung des ersten großen Gesetzeswerkes von Andrea Nahles ist eindeutig. Die Juristen haben schwere Bedenken und finden, diese Ungleichbehandlung sei nicht haltbar. Ein Fall fürs Bundesverfassungsgericht. Rentenpolitiker Kurth kritisiert den Kuhhandel zwischen Wirtschaftsflügel der Union und Sozialpolitikern der SPD scharf:  "Ergebnis des Koalitionskonflikts ist eine ebenso unnötige wie verfassungswidrige Stichtagsregelung.“

Deshalb wird jetzt der zähe Weg über die Sozialgerichte bis zum Verfassungsgericht beginnen. Bereits im ersten Monat seit Inkrafttreten der Regelung haben mehr als 50.000 Menschen die Rente mit 63 beantragt. Etliche, die nicht in den Genuss kommen, werden den Weg vor Gericht nicht scheuen.

Es spricht viel gegen eine Frühverrentung mit 63 Jahren. Dann etwa, wenn jemand gesundheitlich ohne weiteres noch arbeiten könnte - zumal die Menschen heute länger leben. Fest steht aber definitiv: Es spricht alles gegen eine Rente mit 63, die willkürlich Grenzen zieht - und die einen begünstigt, während sie die anderen benachteiligt.

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