
WirtschaftsWoche: Herr Ministerpräsident, die hessische CDU stand wie kein anderer Landesverband gegen die Grünen. Wie gefällt es Ihnen nun mit Ihren neuen Freunden?
Bouffier: Schwarz-Grün regiert seit einem Dreivierteljahr. Wir arbeiten erfolgreich und respektvoll zusammen, wir streiten nicht. Die Union liegt bei Fragen der Wirtschaft, der Finanzen, der Arbeitsplätze in der Bevölkerung weit vorn. Die Grünen sind führend bei Umweltschutz, Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit. Wir wollen in unserer Regierungspolitik Ökonomie und Ökologie verklammern – das ist unser Ansatz für das 21. Jahrhundert.
Klingt pompös. Was heißt das praktisch?
Die Umweltministerin hat gerade eine weitreichende Entscheidung für das Weltunternehmen Kali + Salz getroffen: Wir verbessern uns ökologisch, und wir erhalten die 6000 Arbeitsplätze. Will ich ab morgen Tafelwasserqualität in der Werra haben, dann sind die Arbeitsplätze weg. Und beuten wir alles rigoros aus, bin ich in ein paar Jahren auch am Ende. Erst der Kompromiss führt zur Handlungs- und Zukunftsfähigkeit. So macht die Arbeit Spaß.
Zur Person
Bouffier, 62, regierte Hessen zunächst zusammen mit der FDP. Seit Januar 2014 führt der Jurist die erste Koalition von CDU und Grünen in einem Flächenland. Hinter der Tür im hessischen Landtag fanden die Sondierungsgespräche statt.
Die gesamte CDU schaut auf Hessen. Gilt das Sinatra-Motto: If I can make it there, I’ll make it anywhere?
Schwarz-Grün ist zunächst eine hessische Lösung. Die ist untrennbar verbunden mit der Sache und den handelnden Personen. Da hilft der hessischen CDU, dass sie nicht im Verdacht steht, wegen einer Regierungsbeteiligung alle ihre Grundsätze über Bord zu werfen. Sind wir erfolgreich, ist das sicherlich ein Bündnis für die Zukunft.





Angela Merkel ist also zu links und zu beliebig, um Schwarz-Grün wagen zu können?
Das ist eine unzulässige journalistische Weiterentwicklung.
Im Bund hat es parallel dazu in den Gesprächen mit den Grünen nicht gereicht.
Ich war auch im Bund dabei und habe gesehen: Die Grünen waren auf Bundesebene noch nicht so weit. Heute leiden sie unter Bedeutungslosigkeit. Auch die sächsischen Grünen sind auf dem Weg zu fünf Jahren Nirwana. Und wenn sie nicht klug sind, machen sie es in Thüringen auch so. Deren Motto lautet: Lieber ohne jede Bedeutung, aber reinen Herzens.
Flughafen und Energiepolitik
Und bei Ihnen ist es umgekehrt?
Wir sind Realisten, auf beiden Seiten. Die Bundesgrünen können ein paar Pressemitteilungen produzieren, mehr nicht. Herr Al-Wazir möchte hier gute Politik für Hessen und seine Wähler machen. Wenn wir erfolgreich sind, kann man es vielleicht auf die gesamte Bundesrepublik übertragen. Schließlich haben wir hier alles: Flughafen, Verkehrsprobleme, schwierige ökologische Fragen, Integration in allen Facetten. Wenn wir es versemmeln, wirkt es abschreckend.
Ein neuralgischer Punkt ist der Flughafen. Kommt da durch die Grünen noch mal Bewegung rein?
Es gilt der Koalitionsvertrag: Der Flughafen muss wettbewerbsfähig bleiben. Unsere Konkurrenz sind Istanbul, Abu Dhabi, Dubai. Die Türkei baut zehn Landebahnen. Die fliegen rund um die Uhr und werden nach dem Staubsaugerprinzip überall aus Deutschland die Passagiere für drei Euro nach Istanbul fliegen, damit sie dort die Maschinen nach Bombay, Jakarta, New York füllen können. Wir müssen unseren wirtschaftlichen Herzmuskel gesund halten. Aber wir dürfen die Menschen in diesem dicht besiedelten Gebiet nicht überfordern. Es muss leiser werden.
Diese Bundesländer müssen bis 2020 am meisten sparen
Berlin
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 0,1 Prozent
Nordrhein-Westfalen
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 0,2 Prozent
Thüringen
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 0,7 Prozent
Brandenburg
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 0,7 Prozent
Rheinland-Pfalz
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 1,0 Prozent
Mecklenburg-Vorpommern
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 1,1 Prozent
Sachsen-Anhalt
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 1,4 Prozent
Hessen
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 1,4 Prozent
Bremen
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 2,6 Prozent
Saarland
Jährlicher Sparbedarf je Einwohner und Jahr von 2012 bis 2020: 3,3 Prozent
Also doch mehr Nachtflugverbote?
Nein, es bleibt beim Nachtflugverbot von 23 bis 5 Uhr. Aber wir versuchen durch Lärmpausen, einzelne Regionen zusätzlich zu schonen, indem mal die eine, mal die andere Bahn genutzt wird. Die Masse der Menschen akzeptiert das. Selbst in der Stadt Frankfurt interessieren sich nur 2,5 Prozent für dieses Thema.
In Sachsenhausen wird es anders sein.
Wir haben alle Wahlkreise gewonnen, bei Bundestags- und Landtagswahl. Auch in Sachsenhausen. Obwohl wir in dieser Frage allein standen gegen alle anderen Parteien. Ich nehme die Beschwerden der Menschen ernst, deshalb setzen wir ja unsere Bemühungen fort. Aber politisch berührt das Thema nur wenige. Fahren Sie mal nach Flörsheim – der Bürgermeister ist ein Sozialdemokrat – und fragen Sie da mal, warum Rot-Grün im Stadtrat ein ehemaliges Fabrikgelände direkt am Flughafenzaun zu einem Wohngebiet erklärt hat.





Wo sind die Grünen denn für Ihr wirtschaftsfreundliches Regierungshandeln hinderlich?
Nirgendwo. Auch die hessischen Grünen wollen schwarze Zahlen schreiben. Ökologie ist nur möglich, wenn die Wirtschaft erfolgreich ist.
Ein historisches Kampfthema in Hessen war die Energiepolitik. Nun sind die Grünen ein verlässlicher Partner?
Der einzige Unterschied ist, dass die Grünen den Ausbau gern etwas schneller hätten als wir. Wir werden den Anteil der regenerativen Energie in dieser Legislaturperiode verdoppeln. Bis 2050 wollen wir auf 100 Prozent sein. Auch ich will die Stromautobahnen nicht mit der Bereitschaftspolizei durchsetzen. Wenn die ganze Bevölkerung wie ein Mann dasteht, dann muss man eine verträglichere Lösung finden.
Länderfinanzausgleich
Der Streit um den Länderfinanzausgleich steckt fest. Wird es noch einen Kompromiss geben, oder muss am Ende das Bundesverfassungsgericht Ihre Klage entscheiden?
Die ökonomische Antwort: Ein Land wie Deutschland kann nicht nur von drei starken Ländern abhängig sein. Bayern, Baden-Württemberg und Hessen bringen 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die politische Antwort: Diese Klage ist Notwehr, weil die Empfängerländer zu keinerlei Entgegenkommen bereit waren. Ich bin sicher, dass wir zu Veränderungen kommen werden.
Wie kann man das finanzieren?
Dazu könnten wir das Aufkommen des Soli nehmen. Entweder der Bund behält das Geld, und wir legen gemeinsam fest, wofür es verwendet wird, oder man lässt es den Ländern zufließen.
Wie viel jeder Bürger im Länderfinanzausgleich bezahlt oder erhält
Niedrige Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1434 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1557 Euro
Saldo: +123 Euro
Angaben für 2012; Ohne Sonder-Bundesergänzungszuweisungen
Quelle: Bundesfinanzministerium, eigene Berechnungen
Hohe Belastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 2384 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1563 Euro
Saldo: -821 Euro
Die Zahlen für die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sind noch nicht um die Einwohnerveredelung korrigiert. Danach stehen sie deutlich besser da.
Niedrige Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1442 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1536 Euro
Saldo: +94 Euro
Die Zahlen für die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sind noch nicht um die Einwohnerveredelung korrigiert. Danach stehen sie deutlich besser da.
Niedrige Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1397 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1559 Euro
Saldo: +162 Euro
Kaum Veränderung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1578 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1559 Euro
Saldo: -19 Euro
Niedrige Belastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1845 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1634 Euro
Saldo: -211 Euro
Kaum Veränderung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1548 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1555 Euro
Saldo: +7 Euro
Niedrige Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1243 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1554 Euro
Saldo: +311 Euro
Niedrige Belastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1916 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1640 Euro
Saldo: -276 Euro
Hohe Belastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1970 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1653 Euro
Saldo: -317 Euro
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 816 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1546 Euro
Saldo: +730 Euro
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 825 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1546 Euro
Saldo: +721 Euro
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 803 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1546 Euro
Saldo: +743 Euro
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 986 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1548 Euro
Saldo: +562 Euro
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 1358 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1529 Euro
Saldo: +171 Euro
Die Zahlen für die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sind noch nicht um die Einwohnerveredelung korrigiert. Danach stehen sie deutlich besser da.
Hohe Entlastung
Steuerkraft je Einwohner vor dem Ausgleich: 817 Euro
Steuerkraft je Einwohner nach dem Ausgleich: 1544 Euro
Saldo: +727 Euro
Könnte man ihn nicht einfach wegfallen lassen, 25 Jahre nach der Wende in der damaligen DDR?
Nein, wir alle brauchen das Geld für unsere wachsenden Aufgaben. Die östlichen Bundesländer bedürfen auch nach 2019 der Unterstützung. Auch die Notlagenländer, also Bremen, Saarland und – wenn Sie richtig gucken – auch Schleswig-Holstein, brauchen unstreitig Hilfe. NRW wird politisch das schwierigste Problem. Verschuldet bis über beide Ohren – und trotzdem beschließen die immer neue Ausgaben mit noch mehr Schulden. Dass sie von uns noch Geld bekommen, kann ich niemandem erklären.
Die Länder sind sich schnell einig, wenn es wie beim Soli ans Geld des Bundes geht...
Geschäfte zulasten Dritter sind immer faszinierend. Aber im Ernst: In jeder denkbaren Rechnung zahlt Hessen erheblich drauf. Wir drei Geberländer müssen entlastet werden. Es geht um die Finanzbeziehungen zwischen den Ländern und mit dem Bund insgesamt. Der Solidarpakt läuft 2019 aus. Dann müssen wir zusätzliche Aufgaben finanzieren, die alle haben – Verkehrsinfrastruktur, Bildung, Integration.
Deutschland
Wie viel Entlastung müsste denn für Hessen herausspringen?
Wir brauchen eine fühlbare Entlastung. Aber ich werde nicht den Fehler machen und einen Betrag nennen. Wir sind solidarisch, aber nicht blöd. Vor allem muss sich das System ändern. Den Lohn unserer Mühen müssen wir zum allergrößten Teil abliefern. Dieses System ist irre.
Kommt Ihnen das Flüchtlingsthema gelegen, um auf die Not der Länder zu verweisen?
Wir haben eine erfreuliche Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung, die dürfen wir nicht kaputt machen. Viel besser als früher. Die Menschen, die herkommen, müssen gescheit untergebracht werden. Da stößt man an Grenzen – finanziell und logistisch. Das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe.