Von wegen Angebot und Nachfrage Wieso Markt und Staat in der Pflege versagen

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Bei der Pflegesatzverhandlung blockieren oft ausgerechnet die Kommunen

Nun könnte ein Pflegeheimleiter theoretisch die Kosten für einen Pflegeheimplatz deutlich anheben und das zusätzlich gewonnene Geld direkt in höhere Löhne für die Pflegerinnen und Pfleger stecken. Dann müssten die Bewohner zwar mehr zahlen, doch er könnte sich mit höheren Gehältern einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen. Das Problem ist nur: In Realität kann er das nicht. Wer in Deutschland ein Pflegeheim betreibt, muss regelmäßig in sogenannten Pflegesatzverhandlungen sein „fiktives Budget“ offenlegen, also seine Finanzpläne. Auf der anderen Seite des Tisches sitzen dabei Vertreter der Pflegekassen sowie der Sozialhilfeträger.

An sich sollen die Pflegebedürftigen (oder ihre Angehörigen) die Lücke zwischen den Kosten eines Pflegeheimplatzes und dem Pflegesatz der Pflegeversicherung möglichst selbst überbrücken. Dieser Eigenanteil ist je nach Heim und Region unterschiedlich hoch, beträgt aber meist mehr als die Hälfte der Kosten. 2017 lag der Eigenanteil laut Barmer Gesundheitskasse im Schnitt bei 1700 Euro im Monat. Im Juni 2018 waren es laut einer Erhebung der Privaten Krankenversicherungen bereits 1831 Euro.

Nicht jeder hat so viel Geld. Und wer das Geld nicht hat, bei dem springt die Sozialhilfe ein. Experten schätzen, dass etwa jeder dritte Pflegeplatz über diese sogenannte Hilfe zur Pflege finanziert wird. Allein 2016 gaben die Bundesländer dafür laut Statistischem Bundesamt etwa 3,6 Milliarden Euro aus.

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Im Umkehrschluss bedeutet das paradoxerweise, dass ausgerechnet der Staat, der sich ja die Förderung der Pflege auf die Fahnen geschrieben hat, die Pflegeheime zum Sparen anhält. Heimbetreiber erzählen, dass sie bei Pflegesatzverhandlungen regelmäßig von den Vertretern der Sozialhilfe ausgebremst werden. Schönere Zimmer, mehr Pfleger als nötig, neue Technik? All das verursacht höhere Kosten – und für die muss im Zweifel der Sozialhilfeträger aufkommen. Bei den notorisch knappen Kommunen stoßen solche Vorschläge deshalb auf wenig Gegenliebe.

Natürlich gibt es auch unter den Pflegeheimbetreibern viele schwarze Schafe, die ihren Angestellten gar nicht mehr bezahlen wollen. Die sich nicht ans Arbeitsrecht halten und ihre Pflegekräfte von einer unbezahlten Überstunde in die nächste jagen. Die vor allem auf ihren eigenen Profit setzen, obwohl beispielsweise in NRW offiziell ein Gewinnerzielungsverbot gilt. Dass es davon einige geben muss, darauf deutet nicht zuletzt das deutlich niedrigere Gehaltsniveau hin.

Dennoch sehen Wirtschaftsexperten aller Couleur die Schuld für die Pflegemisere vor allem bei der Politik. So sagt etwa DIW-Experte Brenke: „In der Pflege gibt es kein Marktversagen, sondern Politikversagen.“ Der Fachkräftemangel sei „hausgemacht“.

Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich neuerdings auf die Fahnen geschrieben, die Pflegemisere zu bekämpfen. So versprach er im Frühjahr, 13.000 neue Pflegekräfte einstellen zu wollen. Solche Einmalaktionen seien jedoch nicht nachhaltig, warnt IW-Expertin Kochskämper. Ohnehin, wo sollen auf dem ohnehin leergefegten Pflegemarkt plötzlich 13.000 Pflegekräfte ehrkommen? „Pflegekräfte sind Fachkräfte, die man nicht einfach durch billige Arbeitskräfte aus dem Ausland ersetzen kann“, warnt auch DIW-Experte Brenke.

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Was stattdessen drängt, sind strukturelle Reformen. So fordert das IW Köln in seinem neuen Bericht, Regularien und Dokumentationspflichten zu lockern, um den Heimen mehr Spielraum zu lassen. Um, Marktwirtschaft eben, mehr Gestaltungsspielraum und mehr Konkurrenz zuzulassen.

Am wichtigsten wäre jedoch eine Reform der Finanzierung. Bislang ist es so, dass die Pflegesätze über Jahre hinweg konstant bleiben, während die Kosten für Pflegeheimplätze explodieren. „Der Eigenanteil ist immer größer geworden“, sagt IW-Expertin Kochskämper. Diese wachsende Summe müssen der Pflegebedürftige oder seine Familie aus eigener Tasche zahlen. Oder, gelingt dies nicht, die Kommune. Es eine erdrückende Last, die da auf die Pflegegesellschaft der Zukunft zurollt.

Um sich ein neues Finanzierungsmodell zu überlagen, müsste das Thema aber zunächst breit diskutiert werden, fordert DIW-Experte Brenke: „Die Gesellschaft muss sich klarwerden: Was ist ihr die Pflege wert?“ Vorstellbar ist theoretisch ein System, die voll über die Pflegeversicherung finanziert wird. Das würde die Beiträge jedoch explodieren lassen. Die meisten Ökonomen plädieren stattdessen für ein gemischtes Modell ähnlich dem, das es heute schon gibt – mit einem Unterschied: An höheren Pflegebeiträgen führt wohl kein Weg vorbei.

Dafür sollten aber auch die Pflegesätze regelmäßig ansteigen. Zwar werden sie auch heute schon regelmäßig von der Politik überprüft. Die Ökonomen fürchten jedoch, dass wirtschaftlich notwendige Schritte so von politischem Kalkül abhängen können. Stattdessen sollten die Pflegesätze automatisch an die Preisentwicklung angepasst werden, fordert das IW Köln. Das hätte auch einen positiven Nebeneffekt: Der Eigenanteil würde sinken und mit ihm die Summen, für die im Notfall die Sozialhilfe aufkommen muss. Die Kommunen hätten weniger Grund, sich gegen ambitionierte Finanzpläne der Heimbetreiber zu stellen. Und die könnten endlich mit höheren Gehältern um die besten Fachkräfte werben.

Eine komplette Deregulierung des Pflegemarktes fordern hingegen noch nicht einmal die Ökonomen. Die Risiken sind zu hoch. Versagt das Prinzip von Angebot und Nachfrage auch ohne Staat, könnten sich zwar einige Wohlhabende eine hervorragende Pflege leisten. Die anderen würden ohne staatliches Sicherungsnetz jedoch tief fallen. Selbst im allerbesten Fall bekämen Millionen Pflegebedürftige nur zweitklassige Leistungen, warnt DIW-Experte Brenke. "Und das sollt man sich als Industrieland nicht leisten."

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