Von wegen Angebot und Nachfrage Wieso Markt und Staat in der Pflege versagen

Ausgerechnet in der Pflege, einem der Schicksalsthemen der nächsten Jahrzehnte, versagen die Marktgesetze völlig. Quelle: imago images

Eine neue Studie prognostiziert einen immensen Pflegenotstand. Trotzdem wissen weder Markt noch Staat eine Antwort. Wie kann das sein – und was muss geschehen?

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Hätte David Ricardo recht, dürfte es die deutsche Pflegemisere gar nicht geben. Würde das von ihm und vielen nachfolgenden Ökonomen postulierte Modell von Angebot und Nachfrage tatsächlich greifen, müssten, vereinfacht gesagt, die Pflege-Gehälter weit genug steigen, um genug Pflegekräfte anzulocken.

Die Realität sieht anders aus. In keinem Bereich in Deutschland übersteigt die Nachfrage das Angebot so dramatisch wie in der Altenpflege. Schon heute sind mehr als 15.000 bestehende Pflegestellen unbesetzt. Einer neuen Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts IW Köln zufolge, die der WirtschaftsWoche vorab vorliegt, kommen auf 100 ausgeschriebene Stellen für Altenpfleger gerade einmal 22 Fachkräfte. Und die Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl der offenen Stellen sogar doppelt so hoch ist. Bis 2030 soll die Lücke laut Prognose des Deutschen Pflegerats auf 200.000 unbesetzte Stellen anwachsen. Ein Grund ist, dass die Zahl der Pflegebedürftigen laut IW Köln von heute drei Millionen auf dann vier Millionen anwachsen könnte.

Ausgerechnet in der Pflege, einem der Schicksalsthemen der nächsten Jahrzehnte, versagen die Marktgesetze völlig. Doch wieso ist das so – und was lässt sich daran ändern?

Die naheliegende Antwort ist, dass der Pflegemarkt beileibe nicht dem Ideal der klassischen Theoretiker entspricht. Damit, wie man es aus den vereinfachenden Schemata kennt, sich die Angebots- und Nachfragekurve genau in der Mitte treffen, muss der Markt perfekt sein: Alle Teilnehmer handeln nach eigenem, rein rationalem Interesse, ohne größere Kenntnisse oder Macht als ihre Marktteilnehmer. Es gibt jeweils eine Bandbreite an Beträgen, die die einen zahlen und die anderen verdienen wollen. In der Mitte trifft man sich.

Doch der Pflegemarkt ist eben nicht perfekt, und das gleich in mehrerlei Hinsicht. So gibt es, erstens, in Deutschland nur drei große Player im Pflegebereich: öffentlichen Dienst, Kirchen und private Anbieter. Der öffentliche Dienst ist mit seiner Tarifstruktur per se fern der Prinzipien von Angebot und Nachfrage und verzerrt den Marktpreis. Auch die Kirchen setzen in der Regel auf Tariflöhne, die denen des öffentlichen Dienstes ähneln. Ein perfektes Marktgleichgewicht kann nicht entstehen.

Zweitens ist der Pflegemarkt hochgradig reguliert. In jedem Bundesland bestimmen eigene Landesrahmenverträge jedes Detail, wie viele Patienten auf einen Pfleger kommen dürfen etwa oder wie groß ein Zimmer sein darf. „Das ist ein sehr eng gesteckter Rahmen“, sagt Susanna Kochskämper, Pflegeexpertin und Mitautorin der neuen Studie des IW Köln. Dieser Rahmen diktiert, was in der Pflege geschieht, nicht der freie Markt.

Dennoch – oder gerade deshalb – lohnt ein Blick auf den privaten Sektor. Private Anbieter sind zwar nur einer von drei Arbeitgebern im Pflegebereich, sie beschäftigen jedoch etwa die Hälfte aller Pflegekräfte. Folgt man der Theorie, müssten zumindest die angesichts der hohen Nachfrage besonders gut bezahlt werden. Bei Erziehern etwa ist das so: Sie verdienen bei privaten Einrichtungen mehr als bei öffentlichen. Pfleger hingegen verdienen bei privaten Anbietern bis zu 30 Prozent schlechter als ihre öffentlichen und kirchlichen Kollegen. Wie kann das sein?

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Hier kommt die dritte Besonderheit des Pflegebereichs zum Tragen: Nicht nur die Hälfte der Löhne werden nicht marktwirtschaftlich bestimmt, sondern auch die Einnahmen der Pflegeheime – und damit indirekt wiederum die Gehälter.

Weniger als die Hälfte ihrer Einnahmen bestreiten Pflegeeinrichtungen über die Pflegesätze, die sie von der Pflegeversicherung für jeden Pflegefall bekommen. Die Sätze sind unterschiedlich hoch, je nach Pflegegrad des Betroffenen. In der vollstationären Pflege variieren sie zwischen 125 und 2005 Euro im Monat. Davon werden die Kosten nicht abgedeckt: Ein Pflegeheimplatz kostet im Schnitt über 3000 Euro im Monat, im Osten oft weniger, im Westen oft weit mehr. Dennoch sind es die Pflegesätze, die entscheiden, ist Karl Brenke überzeugt, Pflegeexperte vom Wirtschaftsforschungsinstitut DIW Berlin: „Die Preise bestimmen die Löhne.“

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