Vor dem Sonderparteitag Die SPD braucht linken Realismus

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Unbequeme Dinge aussprechen

Linker Realismus als Antwort auf diese Situation bedeutet die postmoderne Schönrednerei des Status Quo und das Wegignorieren von Problemen zu überwinden. Linker Realismus bedeutet, ernsthafte Debatten über soziale Ungleichheit zu führen. Er bedeutet zu thematisieren, was die momentan größte Bedrohung deutschen Wohlstands ist. Nämlich der Zusammenbruch des Euro-Kapitalismus. Im Falle des Auseinanderfallens des Euros wären die Deutschen die größten Verlierer. Die D-Mark, oder ein Nord-Euro, würde zur härtesten Währung der Welt, Auslandsvermögen würden vernichtet und die deutsche Exportindustrie fundamental geschwächt. Wie sichert man also den Euro-Kapitalismus? Das gehört diskutiert. Vor allem sollte ein Euro-Keynesianismus als Alternative zur neoliberalen Politik in der EU diskutiert werden.

Man sollte zudem die Zukunft der deutschen Industrie diskutieren, anstatt lediglich aus postmodernem Antrieb die segensreichen Potenziale der Start-Ups des Kreativkapitalismus zu loben. Der Hipster bei Zalando erwirtschaftet nicht den deutschen Wohlstand, sondern der Facharbeiter und der Ingenieur bei VW, Daimler und im deutschen Maschinen- und Anlagenbau. Linker Realismus heißt, genau das so deutlich zu sagen, und sich genau um diese Industrie und ihre Zukunft zu kümmern.

Linker Realismus bedeutet die Flüchtlingspolitik zu einem Erfolg zu bringen, aber nicht mit Wunschdenken und dem Beschwören der Multikultigesellschaft, sondern mit einem New Integration Deal, der klärt, wo die Flüchtlinge arbeiten sollen, sie dafür qualifiziert und sie davor bewahrt, dauerhaft vom Sozialstaat abhängig zu sein. Ihre dauerhafte Alimentierung durch den Sozialstaat darf nicht das Ziel sein. 

Zur Realität, und die will ein linker Realismus benennen, gehört nämlich auch, dass viele Flüchtlinge hier in Deutschland wohl erst einmal bleiben werden – vor allem jene aus Syrien und dem Irak. Es geht in der Debatte um die Flüchtlinge nicht darum, ob man ein liberales Weltbild hat oder nicht. Es geht darum, dass die Flüchtlinge in Arbeit kommen, wenn sie in nächster Zeit nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können – was sie noch nicht können, weil es dort noch nicht wieder stabil ist. Der linke Realismus will also nicht wegschauen und nichts beschönigen. Er will Lösungen finden. Darin unterscheidet er sich vom rechten Populismus, der selbst nur eine andere Form der Weltbildpolitik ist. Die Rechtspopulisten wollen Anklagen und für eine andere Sichtweise – auf so gut wie alles – werben, aber sie können und wollen nicht dafür sorgen, dass die Integration dieser Menschen wirklich gelingt.

Und weil der linke Realismus nichts beschönigen will, muss auch deutlich gesagt werden, dass im Koalitionsvertrag ein New Integration Deal völlig fehlt. Es wäre richtig gewesen, auf die Rückgabe des Solis zu verzichten und ihn stattdessen in einen Integrations-Soli umzuwandeln. Man darf sich nichts vormachen: Die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt wird Milliarden kosten. Zugleich müsste die Sozialdemokratie für 12 Euro Mindestlohn kämpfen, damit deutlich wird, dass sie auch an jene kleinen Leute denkt, die vom neoliberalen Programm zuletzt benachteiligt wurden. Linker Realismus heißt, genau das deutlich zu sagen und von der Wirklichkeit auszugehen. Denn die Wirklichkeit verlangt nach Antworten.

Linker Realismus heißt, darüber zu sprechen „was ist“, um den Spiegel-Gründer Rudolf Augstein zu zitieren. Das bedeutet auch und gerade unbequeme Dinge anzusprechen. Das gilt für Politiker und Journalisten. Linker Realismus heißt dahin zu gehen, wo es „brodelt, riecht und stinkt“, um Sigmar Gabriel aus seiner Antrittsrede als SPD-Parteivorsitzender wiederzugeben. Und nur wenn man darüber spricht, was ist, kann es Politik geben und zwar dann, wenn man darüber streitet, wie man auf die Realität antworten soll, welche Vorstellung man von der Zukunft hat und welche Instrumente man für seinen Weg vorschlägt.

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