Vorratsdatenspeicherung Wichtige Anti-Terror-Maßnahme vor dem Aus

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat die anlasslose Speicherung von Telefon- und Internetdaten in Deutschland für rechtwidrig erklärt. Aus Sicht von Experten ist damit die Vorratsdatenspeicherung gescheitert.

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Das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung steht möglicherweise auf der Kippe, nachdem ein Gericht entschieden hat, dass Telekommunikationsunternehmen die Telefon- und Internetverbindungsdaten aller Bürger nicht speichern muss. Quelle: dpa

Berlin Manch einer wird sich in diesen Tagen verwundert die Augen reiben, wenn er feststellt, was für Widersprüchlichkeiten die Sicherheitspolitik in Deutschland offenbart. Denn just an dem Tag, an dem die Große Koalition die Überwachung von Kommunikation über Messenger-Dienste wie WhatsApp beschließt, fliegt ihr die Vorratsdatenspeicherung (VDS) um die Ohren. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster hat das Instrument kurz vor ihrer Einführung für unzulässig erklärt.

Ab dem 1. Juli sollten eigentlich Telekommunikationsunternehmen die Telefon- und Internetverbindungsdaten aller Bürger zehn Wochen lang speichern. Doch mit dem Gerichtsbeschluss vom Donnerstag wurde diese gesetzliche Pflicht praktisch infrage gestellt. Die konkrete Entscheidung gilt zwar (zunächst) nur für ein IT-Unternehmen aus München, das geklagt hatte, weil es die Internetzugangsdaten seiner Kunden nicht speichern wollte (Az. 13 B 238/17). Doch nach Einschätzung der Grünen und mehrerer Datenschützer sendet der Beschluss ein Signal von viel größerer Tragweite.

„Das Gesetz muss wegen der gravierenden  Rechtsunsicherheit, seiner hohen Risiken für die Grundrechte der Bürger und die Kosten für die Unternehmen sofort gestoppt werden“, sagte der Vize-Chef der Grünen-Bundestagsfraktion, Konstantin von Notz, dem Handelsblatt. „Die Große Koalition ist vorsätzlich in diese Blamage reingelaufen“, kritisierte er und fügte mit Blick auf das am gestrigen Donnerstag verabschiedete „Staatstrojaner“-Gesetz hinzu: „Die Grundrechte werden leider im Wochentakt von der Großen Koalition durch immer neue Gesetze geschliffen.“ Da komme das Bundesverfassungsgericht kaum dagegen an.

Jan Philipp Albrecht, stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses und innen- und justizpolitischer Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, wertet die Münsteraner Entscheidung als „Meilenstein“ in der Durchsetzung des EU-Grundrechts auf Datenschutz. Die Bundesregierung sollte dies daher zum Anlass nehmen, das Gesetz zurückzunehmen. „Außerdem ist die EU-Kommission aufgefordert“, so Albrecht weiter, „das deutliche Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegenüber den Mitgliedstaaten per Vertragsverletzungsverfahren umgehend durchzusetzen.“

Die Münsteraner Richter hatte zuvor die deutsche Vorratsdatenspeicherung nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom Dezember 2016 als Verstoß gegen europäische Datenschutzrichtlinien gewertet. Dabei geht es um das Vorhalten von Verkehrsdaten von Nutzern über zehn Wochen – also wer wann mit wem wie lange telefoniert oder sich im Internet bewegt – und von Standortdaten der Gespräche für vier Wochen.

Die EU-Richter hatten sich an der anlasslosen Speicherung von Daten gestört. Ein IT-Unternehmen aus München hatte sich per einstweiliger Anordnung erfolglos an das Verwaltungsgericht Köln gewandt. Das OVG gab dem Antrag jetzt in der zweiten Instanz statt. Das Unternehmen bleibt damit bis zu einer Entscheidung über eine Klage am Verwaltungsgericht Köln gegen die Bundesnetzagentur vorerst von der Pflicht befreit.

Der Beschluss des OVG dürfte nach Einschätzung von Datenschützern das Ende der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland einläuten. So könnte das Gesetz letztlich vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Ein Bündnis aus Bürgerrechtlern, Datenschützern und Politikern hat bereits Verfassungsbeschwerde dagegen eingelegt. Der Bundestag hatte das Gesetz im Herbst 2015 verabschiedet.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hatte die Vorratsdatenspeicherung schon kurze Zeit später in Zweifel gezogen. Die Experten kamen in einem von der Linksfraktion in Auftrag gegebenen Gutachten zu dem Ergebnis, dass das Gesetz nicht den Vorgaben des EuGH entspreche. Die Experten lagen damit seinerzeit schon auf der Linie des jetzt veröffentlichten Gerichtsbeschlusses.


Bundesnetzagentur soll Vorratsdatenspeicherung aussetzen

Die Bundesregierung vertrat bisher aber immer die Auffassung, das geltende deutsche Gesetz sei verfassungs- und europarechtskonform. Die Linke sah sich durch das Gutachten der Bundestagsjuristen bestätigt: Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations- und Internetverbindungsdaten der gesamten Bevölkerung sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der Bürger, sagte damals der stellvertretende Linksfraktionschef Jan Korte der „Mitteldeutschen Zeitung“. Das deutsche Gesetz verstoße deshalb gegen die Grundrechte und würde vor Gericht so keinen Bestand haben. Schon die vorherige Regelung war 2010 von Karlsruhe gekippt worden.

Um das Ende dieser für die Bundesregierung wichtigen Anti-Terror-Maßnahme zu beschleunigen, könnte nun etwa die Bundesnetzagentur aktiv werden. „Da das Urteil unabhängig von dem Einzelfall des Klägers ist, wäre es nur logisch, wenn die Bundesnetzagentur den Schluss zöge, die Vorratsdatenspeicherung für alle auszusetzen“, sagte die Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, Marit Hansen, dem Handelsblatt. „Die Argumentation des Gerichts deckt sich mit meiner Auffassung, dass es keine pauschale und umfassende Speicherverpflichtung, so wie es die Vorratsdatenspeicherung regelt, geben darf.“

Die Bundesnetzagentur habe zwar auch die Möglichkeit, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten, denn dort sei bereits eine Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung anhängig, sagte Hansen weiter. „Aber“, fügte sie hinzu, „im Sinne einer Gleichbehandlung aller Provider und im Sinne des Datenschutzes hielte ich eine sofortige Aussetzung der Speicherpflicht für alle geboten.“

Ähnlich äußerte sich Johannes Caspar, der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, zumal aus seiner Sicht mit der EuGH- Entscheidung aus dem Jahr 2016 „klar vorhersehbar“ gewesen sei, „dass die deutsche Regelung dem vorrangigen Recht der EU nicht entspricht“. Caspar zieht daraus denselben Schluss wie von Notz und seiner Behördenkollegin Hansen: „Als Konsequenz sollte nun eine Nichtanwendung der Speicherpflichten das rechtsstaatliche Gebot der Stunde sein.“

Das sieht auch der Jurist Ulf Buermeyer so. „Sinnvoll wäre es, wenn die Bundesnetzagentur die Konsequenzen aus der Entscheidung zieht und die Vorratsdatenspeicherung insgesamt aussetzt“, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) dem Handelsblatt. „Das würde hunderte Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln sparen.“ Denn jeder Provider, der dort einen Eilantrag stelle, werde von den Speicherregeln befreit.

Formal gelte der Gerichtsbeschluss zwar nur für den klagenden Telekommunikationsanbieter aus München, gab Buermeyer zu bedenken. „Aber die Begründung des Gerichts ist eindeutig: Die Grundlagen der Vorratsdatenspeicherung im Telekommunikationsgesetz sind komplett europarechtswidrig“, sagte der Rechtsexperte. „Die Entscheidung bedeutet das Aus für die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland.“ Betroffene Unternehmen seien daher schon unter Compliance-Gesichtspunkten verpflichtet, einen solchen Eilantrag zu stellen, „um die enormen Kosten der Vorratsdatenspeicherung zu vermeiden“.

Negative Folgen für die Sicherheit in Deutschland befürchtet Buermeyer nicht. „Denn alle Studien haben ja bisher gezeigt, dass die Vorratsdatenspeicherung ohnehin keinen messbaren Beitrag zur inneren Sicherheit leistet“, betonte Buermeyer, der auch als Richter am Landgericht Berlin arbeitet.


Innenminister verteidigt Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten

Fraglich ist aber, ob die Große Koalition nunmehr zu einer Abkehr von der Vorratsdatenspeicherung bereit ist. Die Signale weisen aus Sicht des Hamburger Datenschützers Caspar in eine andere Richtung. Denn parallel zu der OVG-Entscheidung habe der Bundestag eine Änderung der Strafprozessordnung zur Ausdehnung staatlicher Eingriffe in die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme beschlossen. „Diese sind rechtsstaatlich fragwürdig, gefährden die IT-Sicherheit und wurden in einem wenig transparenten Verfahren in das Parlament eingebracht“, kritisierte Caspar. „Am Ende droht dieser Regelung vor dem Bundesverfassungsgericht absehbar das, was mit der Vorratsdatenspeicherung schrittweise geschieht.“

Den Bundesinnenminister schert das wenig. Er begrüßte die Ausweitung der Überwachungsmöglichkeiten von Messenger-Diensten. „Zur Gefahrenabwehr hat das Bundeskriminalamt diese Befugnis schon länger, aber es war überfällig, eine solche Befugnis auch für Ermittlungsverfahren bei schweren Straftaten zu schaffen“, sagte Thomas De Maizière (CDU) dem Handelsblatt. Künftig sollen staatliche Behörden auch die Kommunikation über WhatsApp und Co überwachen können. „Es kann nicht sein, dass die rechtlichen Befugnisse des Staates und der Erfolg der Strafverfolgung davon abhängen, welches Kommunikationsmittel eine Person nutzt, ob sie per SMS oder WhatsApp kommuniziert.“

De Maizière kündigte im Gespräch mit dem Handelsblatt noch weitere Maßnahmen im Kampf gegen Terror und schwere Straftaten an und forderte eine stärkere Kooperation der Internetkonzerne. Aus seiner Sicht seien die Gespräche mit diesen Unternehmen noch nicht abgeschlossen. „Es kann doch nicht sein, dass jedes kleine Unternehmen unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet ist, mit den Sicherheitsbehörden zusammenzuarbeiten, das für Anbieter von Kommunikationsdiensten aber nicht gilt. Solche Anbieter müssen den Sicherheitsbehörden in dringenden Verdachtsfällen, etwa bei Terroristen, mitteilen, welcher Anschluss wann mit welchem anderen Anschluss in Kontakt stand.“ Telemedienanbieter wie etwa WhatsApp müssten denselben rechtlichen Verpflichtungen unterliegen wie Anbieter von Telekommunikation, also klassische Telefonunternehmen.

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