Vorwurf der Vetternwirtschaft EZB-Mitarbeiter prangern Missstände an

Dunkle Wolken über dem EZB-Tower: In einem offenen Brief zeichnet die Mitarbeitergewerkschaft ein düsteres Bild von der Institution in Frankfurt. Quelle: imago/Ralph Peters

Immer wieder sorgt die Personalpolitik in der Europäischen Zentralbank für Kritik. Nun rechnen Arbeitnehmervertreter mit Präsident Mario Draghi ab – und hoffen auf Besserung unter Christine Lagarde.

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Christine Lagardes Wechsel an die Spitze der Europäischen Zentralbank weckt allerorten Begehrlichkeiten. An den Finanzmärkten, die ihre Nominierung für die Nachfolge von Mario Draghi mit Kurssprüngen feierten, weil sie eine Fortsetzung der Nullzinsparty erwarten. Bei den hochverschuldeten Südländern der Eurozone, die in Madame Nullzins eine Verbündete erwarten dürfen. Bei den Sparern, die – wohl vergeblich – auf eine Abkehr von Draghis Politik des billigen Geldes hoffen. Und auch innerhalb der EZB – beklagen doch viele Mitarbeiter Missstände im eigenen Haus.

Die Mitarbeitergewerkschaft IPSO hat ihr Urteil über Draghi jedenfalls gefällt. In einem offenen Brief prangert die „International and Public Services Organisation“, die laut eigenen Angaben rund ein Drittel der EZB-Belegschaft vertritt, Vetternwirtschaft, schlechten Führungsstil und Arbeitsbedingungen an. Es ist eine Abrechnung mit dem Italiener – auch wenn das Schreiben laut Betreff „an die zukünftige Präsidentin/den zukünftigen Präsidenten“ gerichtet ist.

Es datiert von Anfang Juni, also wenige Wochen bevor die EU-Staats- und Regierungschefs die Französin Lagarde zur Nachfolgerin des Italieners Draghis auserkoren haben. Umso hoffnungsvoller gibt sich Carlos Bowles, Vizepräsident der Gewerkschaft IPSO. Lagarde, so der Eindruck des Franzosen aus Gesprächen mit Kollegen beim Internationalen Währungsfonds, kümmere sich entschlossener um die Belange der Belegschaft als Draghi, der in der EZB den Spitznamen „Mister Elsewhere“, Herr Woanders hat. Lagarde bringe sich stärker ein, treffe regelmäßig Mitarbeitervertreter. Er sei zuversichtlich, sagt Bowles, „dass es unter ihr anders sein wird“.

Christine Lagarde: Europäisch und transatlantisch

Der offene Brief ist, wie die Gewerkschaft schreibt, „keineswegs als persönliche Kampfansage“ gedacht. Vielmehr solle er ein Appell, ein Weckruf, ein „Ausdruck unserer sehr ernsten Sorgen“ sein. Denn die sind vielfältig. Fast ein Drittel der EZB-Beschäftigten sei von Burnout bedroht, ergab 2016 eine Mitarbeiterumfrage. Zwei Drittel äußerten den Eindruck, dass nur befördert werde, wer die richtigen Leute kenne. Fast die Hälfte der Belegschaft ist nach Angaben der Gewerkschaft befristet beschäftigt. Der Betriebsrat könne nicht oder nur unzureichend mitbestimmen.

Die Gewerkschaft stellt die EZB daher als „eine Institution mit dysfunktionalen Merkmalen“ und einem „Demokratiedefizit“ dar. IPSO-Vorstandsmitglied und Ex-Betriebsrat Bowles lastet dies vor allem EZB-Chef Draghi an. Treffen mit den Arbeitnehmervertretern meide der Italiener. Überhaupt spreche er selten mit Mitarbeitern. „Er greift nicht auf die Expertise innerhalb der Institution zurück“, klagt Bowles. Auf Anfrage der WirtschaftsWoche wollte die EZB weder den offenen Brief noch die weitergehenden Aussagen kommentieren.

von Karin Finkenzeller, Malte Fischer, Julian Heißler, Stefan Reccius, Christof Schürmann, Silke Wettach

Die Personalpolitik ist immer wieder Gegenstand interner wie öffentlicher Kritik. Im Oktober 2016 musste die EZB die Ernennung von Stephane Rottier, seinerzeit Berater von Chefvolkswirt Peter Praet, zum EZB-Statthalter in Brüssel widerrufen. Ein Eingeständnis, dass es im Auswahlprozess Ungereimtheiten gegeben hatte. „Vetternwirtschaft“ witterte die Gewerkschaft auch bei der Berufung des Ökonomen Roland Straub in den Beraterstab von Präsident Draghi. Der Fall landete vor dem Europäischen Gerichtshof, der die Klage als unzulässig abgewiesen hat.

Im Dezember 2018 musste die EZB schwerwiegende Versäumnisse im Vorauswahlverfahren für externe Bewerber einräumen. Demnach konnten Mogler unter falschem Namen am Eignungstest teilnehmen, um an die Testfragen zu kommen – und das offenbar über Jahre. Etliche Mitarbeiter hatten die Personalabteilung via Intranet darauf aufmerksam gemacht.

Intern sorgen Stellenbesetzungen immer wieder für Querelen. Dem Vernehmen nach regt sich gegenwärtig Unmut gegen die Besetzung zweier Stellvertreterposten in Unterabteilungen der Bankenaufsicht. Den Zuschlag bekamen im Frühjahr die Deutsche Isabel von Köppen-Mertes und die Griechin Eleni Angelopoulou. In der engeren Auswahl sollen aber auch zwei Landsleute der beiden Abteilungsleiter gewesen sein, ein Spanier und ein Franzose. Arbeitnehmervertreter streuen, dass es dabei einen Verstoß gegen die hauseigenen Verfahrensregeln gegeben habe. Die EZB weist die Vorwürfe zurück.

Der Vorgang legt aber ein grundsätzlicheres Problem offen: Formell darf die Nationalität von Kandidaten kein Auswahlkriterium sein. Mitarbeiter gleich welcher Herkunft haben zudem stets im gesamteuropäischen Interesse zu handeln. „Doch es gibt klare Hinweise“, sagt der Darmstädter Ökonom Volker Nitsch, „dass die Nationalität eine gewisse Rolle spielt. Das aber widerspricht dem Geist der Verträge.“

Nitsch hat das in zwei Forschungsprojekten untersucht. Er fand zum einen Belege dafür, dass EZB-Manager Führungspositionen bevorzugt mit Kollegen aus dem eigenen Land besetzen. Länder mit Personal an den neuralgischen Posten profitierten so in besonderem Maße von der Geldpolitik.

Zum anderen agierten demnach auch die Mitglieder des EZB-Direktoriums nicht frei von nationalen Interessen. Anhand ihrer Terminkalender zeigte Nitsch, dass sie überdurchschnittlich viele Gespräche und Termine im eigenen Land wahrnehmen.

Das klingt trivial, hätte das EZB-Direktorium nicht eine so machtvolle Position. Mit dem Präsidenten an der Spitze hat es insgesamt sechs Mitglieder. Zusammen mit den Notenbankern aus den 19 Eurostaaten bilden sie den EZB-Rat.

Anders als die nationalen Zentralbanker sind die Mitglieder des Direktoriums ständig in Frankfurt präsent. Sie entscheiden nicht nur über die Geldpolitik, sondern auch über die Besetzung von Stellen. Das gebe dem Gremium fast unumschränkte Macht, kritisiert die Gewerkschaft. Sie fühlt sich oft übergangen.

Um Probleme wie die Überlastung von Mitarbeitern und die Reibereien zwischen Direktorium, Management und Mitarbeitern anzugehen, holte die EZB im Frühjahr 2016 einen Fachmann ins Haus, den Unternehmensberater Michael Diemer. Die Belegschaft war zunächst angetan. Doch mehr als drei Jahre später ist davon vor allem Ernüchterung übrig. „Diemer hat keine wirkliche Entscheidungsgewalt, sie liegt nach wie vor in den Händen des Direktoriums“, klagt Gewerkschafter Bowles. Von Diemer war zunächst keine Stellungnahme zu bekommen.

Zweimal im Jahr sollen sich die Mitglieder des EZB-Direktoriums mit den Arbeitnehmervertretern zusammensetzen. So ist es verabredet. Dieser Tage war es wieder so weit. Doch EZB-Präsident Draghi war nach Angaben von Teilnehmern wieder nicht dabei. Es war das letzte Treffen, bevor die Amtszeit des Italieners Ende Oktober endet. Die Hoffnungen ruhen nun ganz auf der designierten Nachfolgerin Christine Lagarde.

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