Vulgarität Der Triumph des dreckigen Lachens

An Karneval gehörte das Vulgäre immer dazu. Aber was, wenn Schamlosigkeit und Lust an der Herabsetzung am Aschermittwoch noch lang nicht vorbei sind?

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Stars wie Mario Barth sind stellvertretend vulgär. Quelle: Getty Images

Auf Etikette, Manieren und bürgerlichen Comment hat der Karneval noch nie Wert gelegt. Im Gegenteil: Er pfeift auf die guten Sitten, erst recht auf die Hygiene des Abstands. Schamlos, wie er ist, sucht er schwitzende Nähe. Da wird geschoben und geschunkelt, gegrinst und gegrölt, gesoffen und gepinkelt, kurz: die Sau rausgelassen. Das ist schließlich der Sinn der „fünften Jahreszeit“: Die Moral auf den Kopf stellen, die Autoritäten schallend verlachen, der Obrigkeit die Zunge herausstrecken – leck mich am Arsch!

Karneval, das heißt seit dem Spätmittelalter: verkehrte Welt. Einmal im Jahr sind die Benimmregeln außer Kraft gesetzt, dann geht der Geist vor dem Leib in die Knie und die sittliche Konvention vor den Ansprüchen des Vulgären, dann wird der König entthront und der Narr zum Herrscher erhoben, das Heilige profaniert und das Gewöhnliche wie ein Goldkalb umtanzt. Karneval, das heißt: Travestie der herrschenden Moral, Außerkraftsetzung der geltenden Normen – freilich nicht, um die Ordnung zu beseitigen. Vielmehr stabilisiert der Ausnahmezustand den Status quo, den er vorübergehend suspendiert. Indem die Menschen das Chaos feiern, rufen sie sich zur Ordnung, denn „am Aschermittwoch ist alles vorbei“.

Was aber, wenn das dreckige Lachen die Grenzen der „tollen Tage“ sprengt? Wenn der Ausnahmezustand zur Dauerübung wird und die Gegenkultur in konstante Kulturlosigkeit umschlägt? Dann erleben wir die Karnevalisierung der Welt und mit ihr den Siegeszug des Vulgären, dem nichts mehr heilig, nichts mehr fremd ist. War Vulgarität früher eine Ausnahme von der Regel, so ist sie heute die Regel, die keine Ausnahme mehr kennt. Sie dringt von den Anzeigenteilen der Stadtmagazine („Versaute Schlampe, zu allem bereit“) in alle Sphären des Lebens vor, erst recht in die einer Unterhaltungskultur, die sich ihr hilflos ausliefert, ja: bereitwillig ergibt.

Nicht nur im Trash-TV, dem legitimen Ort des Vulgären, mit seinen Dschungelcamps und Castingshows. Sondern auch in der Kunst, wo gefeierte Stars wie Jeff Koons oder Richard Prince die billigsten Glitzereffekte der Populärkultur zu Emblemen eines niedlich-monströsen Kitsches aufblasen. Oder im Theater, das Klassiker mit Antibildungseifer in Blut-und-Hoden-Orgien wendet. Gerade die Gebildeten scheinen einen masochistischen Spaß daran zu haben, das Wahre, Gute, Schöne durch den Dreck zu ziehen. Weil die moderne Kultur insgeheim mit dem Vulgären sympathisiert?

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat Vulgarität einmal als „Einverstanden sein mit der eigenen Erniedrigung“ definiert – und das nicht als Kompliment gemeint. Die Kulturindustrie und die Popularisierung der Kunstprodukte waren ihm ein Gräuel. Dabei betritt das Vulgäre im Pop der Sechzigerjahre noch als Protestgeste die Bühne, als Einspruch gegen das Sublime, als antibürgerliche Gebärde.

Ein subversives, „enthemmtes Selbst“ rebelliert gegen eine „repressive“ Moral der Manieren und feiert das Ethos der Authentizität und Selbstdistanzlosigkeit: „So bin ich halt, na und?“ Die symbolischen Attacken zielen regelmäßig unter die Gürtellinie: Von Elvis Presleys Hüftschwung über Frank Zappas Klositzung und Michael Jacksons Griff in den Schritt bis hin zu Miley Cyrus’ Hintern- und Zunge-Zeigen reicht der Fundus obszöner Gesten: Je vulgärer, desto besser!

Offenbar verspricht die Sehnsucht nach der Gosse Erlösung von den Zwängen der Kultur. Die Mode weiß das am besten: Sie kokettiert nicht nur mit dem Bling-Bling des schlechten Geschmacks, mit strassbesetzten Sonnenbrillen und lärmenden Tattoos. Sie nobilitiert das Hässliche, inthronisiert den Schund. Die Londoner Ausstellung The Vulgar. Fashion Redefined, die Anfang März nach Wien wandert, zeigt es: Mode ist immer auch Karneval – ein Fest der Prahlerei und Präpotenz, des Zu-dick-Aufgetragenen. Sie liebäugelt mit der Pornografie und zehrt von den aggressiven Energien des Vulgären, das dem guten Geschmack den Zerrspiegel vorhält: „Seht her, so wärt ihr gern, ihr traut euch bloß nicht!“

Erlaubt ist, was gefällt

Vom antiautoritären Aufstand des Pop indes und von den anarchischen Impulsen der Mode ist außer „Schamverlust“ nicht viel geblieben. Madonna und Lady Gaga sind heute die Galionsfiguren eines exhibitionistischen Überbietungswettbewerbs, nichts weiter: Die Vulgarität des Pop ist längst in den Alltag eingesickert, in unsere Umgangsformen. Soziologen sprechen von Informalisierung: Erlaubt ist, was gefällt. Man kann das als Befreiung aus dem Gefängnis der Moral verbuchen. Aber auch als Verwahrlosung: Es geht das Gefühl verloren für das, was sich gehört – und was nicht. Der Geist des Laisser-faire führt, wie Wolfgang Sofsky sagt, zur „Anpassung nach unten“.

Man läuft dann mit der Bierflasche durch die Stadt, schminkt sich im Zug oder stellt das Bikini-Selfie auf Facebook.

Vor allem die Frauen haben in einem Akt nachholender Enttabuisierung die Vulgarität entdeckt: Für die Generation Alice Schwarzer war es noch verpönt, mit Sexismen zu spielen. Heute posaunen nassforsche Jungfeministinnen ihre Lust am Sex als Ausrufezeichen einer vollendeten Emanzipation in die Welt. Weibliche Comedians suhlen sich in „Feuchtgebieten“ und begröhlen ihre „Fuckability“. Die Krawall-Komikerin Carolin Kebekus tritt breitbeinig, „mit Eiern in der Hose“ auf, spricht gern über Frauenfürze („unfassbar lustig“) und fordert im Namen von „Pussy-Terror“ einen „sexy Feminismus“, der nicht nach „unrasiert und ungebumst“ klingt. Vulgär? Für Kebekus ist das ein Kompliment.

Darin besteht das Betriebsgeheimnis der Vulgarität: Die Unverschämtheit sichert ihr Applaus, mit ihrer Selbstzufriedenheit macht sie Punkte. Der Vulgäre ist ganz bei sich und seinem Publikum, wenn er andere herabsetzen kann. Die Unterhaltungsbranche lebt vom feixenden Einverständnis, vom Appell an die niedrigsten Instinkte. Komiker wie Atze Schröder oder Mario Barth ernten Brüller, wenn sie die Welt auf den unterleiblichen Nenner bringen können. Der Star ist stellvertretend vulgär. Für seine Ruchlosigkeit wird er vom Publikum geliebt: Er kann sich alles erlauben. Sein Niemand-kann-mir-was-Ego setzt sich über alle Grenzen des Gebotenen hinweg.

Darin ist er stilbildend geworden, auch für Politiker: Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück packen den Mittelfinger aus, CDU-General Peter Tauber bringt ein „Arschloch“ zum Schweigen, und Roland Pofalla kann als Kanzleramtschef die „Fresse“ eines Parteifreunds nicht mehr sehen. Doch das alles ist nichts angesichts des gegenwärtigen Vulgaritätsspektakels in den USA. Der Hang zum Pomp, zur Selbstanpreisung, zum offenen Sexismus und zur Demütigung Andersdenkender – Donald Trump ist der lebende Beweis für das Dekret von Manieren-Papst Asfa-Wossen Asserate: „Wer vulgär ist, ist immer und ganz und gar vulgär.“

Stimmt das, so wird der Sieg des Vulgären total. Durch schiere Präsenz, durch die bloße Unverschämtheit seines Auftretens degradiert er alle anderen zu sprachlosen Zuschauern. Ein Dialog wird so unmöglich. Die „heute-show“ im ZDF etwa, die sich von lauter „Vollpfosten“ umstellt sieht, ist das Paradebeispiel einer Vulgarität, die im Namen der guten Absicht alles Politische mit Geschrei zum Verstummen bringt. Tatsächlich inszeniert sich hier das öffentlich-rechtliche Fernsehen als verlängerter Arm der asozialen Medien, die man sich nicht als Echokammern der eigenen Meinung vorstellen sollte – sondern als Paviankäfige, in denen sich entzähmte Menschengruppen auf die Brust klopfen und Beißbereitschaft signalisieren.

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