VW-Abgasaffäre Merkel soll Verjährung von Dieselgate-Ansprüchen verhindern

Verbraucherschutzminister fordern rasch die Einführung einer Musterklage. Nur so könnten VW-Geschädigte eine Verjährung ihrer Ansprüche verhindern.

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VW-Abgasaffäre: Verbrauchern droht die Verjährung ihrer Ansprüche Quelle: dpa

Berlin Die Verbraucherschutzminister der Länder und der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) wollen verhindern, dass Ansprüche von VW-Kunden gegen Volkswagen in der Abgasaffäre verjähren. Nachdem Union und SPD in den Sondierungsgesprächen für eine Große Koalition bereits darin einig waren, für Fälle mit vielen Betroffenen wie beim Diesel-Skandal künftig kollektive Klagerechte einzuführen, sei es nunmehr „dringend geboten, ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten“, schreiben der Saar-Verbraucherschutzminister Reinhold Jost (SPD), der den Vorsitz der Verbraucherschutzministerkonferenz innehat, sowie der Vorstand des Bundesverbandes, Klaus Müller, in einem gemeinsamen Brief an die Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU), Martin Schulz (SPD) und Horst Seehofer (CSU). Das Schreiben liegt dem Handelsblatt vor.

Aus Sicht von Verbraucherschützern ist es höchste Zeit, nun endlich einen Rechtsrahmen zu schaffen. Denn für Geschädigte wie etwa im Dieselskandal um Volkswagen tickt die Uhr: Bislang muss jeder betroffene Autobesitzer wegen manipulierender Abgas-Steuerungen individuell klagen. Damit trägt er auch das Risiko, auf den Prozesskosten sitzen zu bleiben. Hinzu kommt, dass mögliche Ansprüche mit Ablauf des Jahres 2018 verjähren.

Die Union hatte indes den Entwurf für eine Musterfeststellungsklage von Justizminister Heiko Maas (SPD) zuletzt blockiert. Dessen Pläne sahen im Prinzip vor, Massenfälle mit einer Klage eines Verbands vor Gericht zu bringen. Das Urteil zu einer solchen Musterklage wäre dann Basis für Entscheidungen zu jedem Einzelfall oder für Vergleiche.

Jost und Müller halten den von Maas schon Ende 2016 vorgelegten Entwurf für „zielführend und vernünftig“. Daher sollte er „Ausgangspunkt für ein parlamentarisches Verfahren sein“. Im Detail sollte es aus ihrer Sicht noch zu Verbesserungen kommen. Im vorliegenden Gesetzentwurf hänge die „Verjährungshemmung“ davon ab, dass sich Verbraucher in ein noch einzurichtendes Klageregister eintragen. „Hier wäre zu prüfen, ob die Verjährungshemmung nicht auch ohne ein solches Register möglich wäre – also allein durch Rechtshängigkeit der Klage herbeizuführen wäre“, schlagen Jost und Müller vor.

Eine entsprechende Regelung gebe es etwa im französischen Klageverfahren und im deutschen Kartellrecht, wo die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens automatisch die Verjährung von Schadensersatzansprüchen hemme. Entscheidend sei jedenfalls, „dass die Betroffenen während der Musterklage effektiv vor der Verjährung ihrer Ansprüche geschützt werden und das Verfahren nicht durch umfangreiche Vorprüfungen verzögert wird“.

Kanzlerin Merkel hatte den Entwurf von Maas im Wahlkampf als zu bürokratisch bezeichnet und stattdessen für eine Lösung geworben, wie es sie bereits für Kapitalanleger gibt. Den Weg über das Kapitalanlagen-Mustergesetz (KapMuG) halten Jost und Müller jedoch für verfehlt. Durch eine vorherige Bündelung von Individualklagen geschädigter Anleger werde das Musterverfahren erheblich verzögert und entfalte keine Breitenwirkung. „Die bestehende Ausgestaltung hat sich deshalb nur als bedingt geeignet erwiesen, um den betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern einen möglichst einfachen Zugang zu einer effizienten Rechtsdurchsetzung zu ermöglichen.“ Aus Sicht von Jost und Müller sollte eine „niedrige zweistellige Zahl von Einzelfällen“ ausreichen, um eine Musterfeststellungsklage zu erheben.

Konkreter wird Müller in einem gemeinsam mit dem Vizepräsidenten des ADAC, Ulrich Klaus Becker, verfassten Brief an den Chefunterhändler der CDU, Innenminister Thomas de Maizière. „Der Kläger sollte (…) maximal zehn Einzelfälle dokumentieren müssen, um eine Musterfeststellungsklage zu erheben.“ Eine Sammelklage nach US-Vorbild, die „sogenannte class action“, lehnen Becker und Müller ausdrücklich ab. „Uns geht es einzig und allein darum, dass Verbraucher Ansprüche in einem rational geordneten Verfahren einfach und kostengünstig ohne unüberbrückbare Hürden geltend machen können.“

Müller und Becker betonen in ihrem Schreiben, das dem Handelsblatt vorliegt, ausdrücklich die Dringlichkeit neuer Klagerechte für Verbraucher. Ihre Einführung solle daher „als zentrales rechts- und verbraucherpolitisches Projekt“ in der Koalitionsvereinbarung „verbindlich“ beschlossen werden, heißt es in dem Brief. Damit wäre eine Schutzlücke im Verbraucherrecht geschlossen. Offensichtlich wurde diese etwa dadurch, dass VW geschädigten deutschen Diesel-Kunden keine Entschädigung wie in den USA anbietet, weil dafür in Deutschland keine gesetzliche Verpflichtung besteht. Eine neue gesetzliche Regelung könnte helfen, wenn sie schnell kommt.

In der deutschen Wirtschaft regt sich allerdings schon Widerstand. „Sammelklagen sind ein Fremdkörper im deutschen Zivilprozess“, sagte der Chefjustitiar des Deutschen Industrie und Handelskammertags (DIHK), Stephan Wernicke, dem Handelsblatt. „Die genaue rechtliche Ausgestaltung von Sammelklagen sollte daher nicht in den Koalitionsverhandlungen vorgenommen werden.“ Zudem würden bestehende Defizite im kollektiven Rechtsschutz nicht dadurch beseitigt, „amerikanischen Sammelklagen-Kanzleien und britischen Prozess-Finanzierern eine allgemeine Klageberechtigung zuzugestehen“, warnte Wernicke. „Das setzt die falschen Anreize, denn Recht ist kein Investitionsobjekt.“

Der DIHK-Justiziar schlug stattdessen eine neutrale, öffentlich-rechtliche Ombudsstelle vor, um das zentrale Problem der Klageberechtigung und die Missbrauchsgefahr grundloser Klagen zu lösen. Damit hätten andere EU-Staaten die „besten Erfahrungen“. „Das wäre auch ein echtes verbraucherrechtliches Zukunftsprojekt.“ Außerdem würden digitale Rechtsdienstleister wie Flightright.de gerade bei sogenannten Streu- und Masseschäden „schon bald eine viel größere Bedeutung erlangen, denn so können alle Betroffenen erreicht werden“.

Minister Jost und Verbraucherschützer Müller sehe indes auch losgelöst vom Abgasskandal der letzten Jahre verbraucherpolitischen Handlungsbedarf im kollektiven Rechtsschutz: Einzelnen rechtswidrigen Handlungen von Unternehmen stehe häufig eine Vielzahl geschädigter Verbraucher gegenüber. „Der Rechtsstaat darf es sich nicht länger leisten, diese allein auf den individuellen Rechtsweg zu verweisen und Gerichte – wie im aktuellen Fall – mit mehreren tausend Einzelklagen zu belasten.“

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