Hendrik Wüst steht in der neu erbauten Empfangshalle der Firma Schüco in Bielefeld und staunt. Die Firmenleitung des Bauzulieferers hat ihn gebeten, das imposante Gebäude in geschwungener Guggenheim-Optik feierlich einzuweihen. Die Schere zum Durchschneiden des symbolischen Bands am Eingang liegt schon bereit, und die Belegschaft des Unternehmens wartet gespannt auf die Festrede des Ministerpräsidenten. Der schaut sich lächelnd um, nickt Bekannten und Parteifreunden unter den Gästen zu und lobt mit der rhetorischen Routine des Berufspolitikers die beachtliche Investition in den Standort Bielefeld.
Hendrik Wüst ist auf Wahlkampftour, für den CDU-Politiker geht es bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 15. Mai um alles. Erst vor einem halben Jahr hat der frühere Landesverkehrsminister das Amt von Armin Laschet übernommen, von einem echten Amtsbonus kann Wüst also noch nicht zehren. Eigentlich müsste er deshalb jetzt laut kämpfen, aber Wüst liebt neuerdings leise Töne. Das Image des forschen Haudegens, das er lange als rauflustiger und kantiger CDU-Generalsekretär trug, hat er konsequent abgelegt.
Der Ministerpräsident auf Bewährung versucht es auf die freundliche Tour, auch bei seinem Besuch des Schüco-Konzerns. Der Bauzulieferer aus Bielefeld ist nur einer der vielen Hidden Champions in Ostwestfalen. Namen wie Oetker, Miele, Bertelsmann oder Zurbrüggen kennt jeder, aber in der Gegend sitzen auch Unternehmen wie Nobilia, der größte Küchenhersteller Europas oder andere unbekannte Größen.
Normalerweise ein guter Anlass für den Ministerpräsidenten, die Solidität der Region zu loben, die Wirtschaftspolitik seiner Regierung ins rechte Licht zu rücken und die Erfolge des Mittelstands hervorzuheben. Doch Wüst spricht bei seinem Unternehmensbesuch über die Ukraine und „die schrecklichen Bilder“, die ihn „emotional sehr anfassen“, wie der junge Familienvater offen zugibt. „Als wir bei Corona gerade dachten, es gibt endlich Licht am Ende des Tunnels, da kam der furchtbare Krieg.“
Wahlkampf inmitten der Zeitenwende
Wüst, ein schlanker, hochgewachsener Mann mit fast noch jugendlicher Ausstrahlung, ist Jahrgang 1975. „Wir in meiner Generation haben immer gedacht, dass alles besser wird, dass wir alles machen können und dass es immer so weiter geht“, räumt er ein. Aber man habe sich „gründlich geirrt“ und „viel zu lange nur zugeschaut, wie die russische Propaganda versucht hat, die westlichen Demokratien zu destabilisieren“.
Wüst spricht über die Zeitenwende, ohne den Begriff von Kanzler Olaf Scholz in den Mund zu nehmen. Alles ist plötzlich anders, nichts ist mehr, wie es war, für die Menschen in Deutschland, für die Wirtschaft, aber auch für den Wahlkämpfer Wüst. Die Landesthemen seiner CDU-FDP-Koalition taugen nur noch bedingt zur Mobilisierung der Bürger; wer will in diesen Tagen schon über Ortsumgehungen, Autobahnsperrungen oder Brückensanierungen reden? Der frühere Landesverkehrsminister Wüst kennt sich da zwar gut aus, aber als ehemaliger Parteimanager und Kampagnenplaner weiß er auch, dass es jetzt um ganz andere Themen geht. Die Menschen sprechen über die Gräuel des Krieges, über die vielen Flüchtlinge und über die Angst, zu tief in den Krieg hineingezogen zu werden. Die Unternehmen klagen über gerissene Lieferketten, explodierende Energiepreise und die steigende Inflation. Auch über Moral wird gestritten, an Küchentischen wie in Konzernzentralen: Kann man noch in Russland produzieren und dort weiter Geschäfte machen? Und können wir einfach weiterhin Gas aus Russland beziehen – und damit helfen, Putins Krieg zu finanzieren?
Je brutaler der Konflikt, desto mehr geraten Politiker, aber auch Unternehmer unter Rechtfertigungsdruck. NRW ist ein Industrieland, Großkonzerne wie Thyssen, Henkel oder Bayer sind auf konstante Gaslieferungen angewiesen, ebenso wie die vielen Mittelständler an Rhein und Ruhr. Täglich melden sich besorgte Manager beim Ministerpräsidenten und beschwören ihn, den populären Forderungen nach einem Boykott russischen Gases nicht nachzugeben. Doch das ist schwer für einen Politiker, der aufgebrachten jungen Leuten bei einer Demonstration in Köln erklären muss, welche schwerwiegenden Folgen der plötzliche Verzicht hätte. Über die drohende Rezession wird unter den Demonstranten kaum gesprochen. „Stoppt Putin“ steht stattdessen auf den Schildern oder „Geschäft statt Moral“.
Der Plan: junger Landesvater
Wüst hat sich dafür entschieden, allen Protesten und eigenen Emotionen zum Trotz eine „verantwortungsvolle Politik“ zu machen, wie er sagt. Das bedeutet, dass er ebenso wie Scholz und das grüne Ministerduo Annalena Baerbock und Robert Habeck im Interesse der Wirtschaft am russischen Gas festhält, auch wenn es schwerfällt. Die Suche nach Alternativen ist im vollen Gange; seit dem Gasboykott der Russen gegen Polen und Bulgarien läuft die Suche nach Ersatz auf Hochtouren. Im Westen Deutschlands ist das leichter als im Osten, wo das gesamte Pipeline- und Leitungssystem an den russischen Röhren hängt.
In NRW käme Ersatz vor allem über die vorhandenen Verbindungen zu den Seehäfen Zeebrügge in Belgien oder Rotterdam in Holland; die Wirtschafts- und Energieminister der beiden Nachbarländer waren schon zu Besuch in Düsseldorf. „Wir müssen so schnell wie möglich unabhängig werden“, sagt Wüst. Doch auch in NRW würde es Monate, eher Jahre brauchen, um Ersatz für das Gas von Gazprom zu beschaffen.
In der Öffentlichkeit versucht Kurzzeit-Ministerpräsident Wüst, so gut es geht den jungen Landesvater zu spielen. Er verzichtet weitgehend auf Angriffe gegen den politischen Gegner, hört zu und nickt, aber streitet nicht. Auch im ersten von zwei TV-Duellen am Dienstagabend hütet er sich davor zu provozieren oder sich provozieren zu lassen.