Wahlkampf

Etwas mehr Qualität, bitte!

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Ein Lob an Christian Lindner

An dieser Stelle ist ausdrücklich Christian Lindner zu loben, der ehemalige Bannerträger der Bürgerbewegung zur Pflege des Linksgrünenekels. Der FDP-Vorsitzende übt sich seit Wochen in Affektkontrolle, hat seine lebenskulturelle Antipathie gegen die Grünen und den precht“philosophischen“ Habitus“ Robert Habecks erstaunlich gut in den Griff bekommen. Zur Erinnerung: Am Ende ihrer symmetrischen Mobilisierung gegen Linksgrüne und Rechtsnationale hat die FDP vor einem Jahr (an der Seite der CDU) keinen Sinn mehr entwickeln können für das, was liberal (und bürgerlich) ist – und vor lauter Ressentiment gegen klimahysterische „Gutmenschen“ und deren angebliche Enteignungsfantasien den Beifall rechtsradikaler Bösmenschen in Kauf genommen (Stichwort Thüringen). Die Freien Demokraten hatten damals aus schierer Angst vor der geistigen Übermacht vegetarischer und radfahrender Liberaler keine Ahnung mehr, was sie jenseits von Wiener Schnitzel und Tempo 210 unter  Selbstbestimmung verstehen sollen. Heute prescht Lindner nicht mehr vor jede Kamera, um den Grünen Freiheitsberaubung vorzuwerfen: fraglos ein Fortschritt.

Der nächste Niveau-Schritt? Wie wäre es, wenn man den Grünen zur Abwechslung mal nicht unterstellte, was sie theoretisch tun würden – sondern wenn man ihn vorwürfe, was sie praktisch nicht tun? In Berlin hat Rot-Rot-Grün nicht mal Tempo 30 durchgesetzt und Autos aus der Innenstadt verbannt: Warum also grün wählen? Auch der Erfolg Winfried Kretschmanns in Baden-Württemberg beruht ja vor allem darauf, dass er keinen Unterschied macht.

Und natürlich darauf, dass seine Herausforderin Susanne Eisenmann ihm den Sieg gewissermaßen schenkt: Ihre Kampagne ist von einer fast schon satirischen Absurdität und Spracharmseligkeit: „CDU, weil wir Verbrecher von heute mit der Ausrüstung von morgen jagen“ (‚Wir Verbrecher‘?) oder: „CDU, weil unser Mittelstand nur weiterlebt, wenn wir Nachwuchs fördern“ (Vorsicht, lebender Mittelstand!) oder: „CDU, weil wir uns überall so sicher fühlen wollen“ (so sicher wie im abgebildeten Badezimmer?) Schließlich: „Wollen wir nicht alle beschützt werden?“ – von Susanne Eisenmann, also einer Frau, die in der Coronapandemie eine Öffnungsdebatte nach der nächsten anzettelt?



Vermutlich nicht. Das politische Großkaliber Markus Söder erledigt solche Strategien mit einem einzigen Satz. Wer bei der Bundestagswahl im Herbst mit „Merkel-Stimmen“ gewinnen wolle, müsse wissen, dass das nur mit „Merkel-Politik“ gehe, dekretierte der CSU-Chef am politischen Aschermittwoch – und erlegte damit zugleich Armin Laschet. Der CDU-Chef hatte sich 48 Stunden zuvor beim Neujahrsempfang des Wirtschaftsrats in Baden-Württemberg in Rage geredet. Er warf einem nicht näher bestimmten Adressaten vor, er könne „nicht immer neue Grenzwerte erfinden“ und „die Bürger behandeln wir unmündige Kinder“ – und erzielte damit gleich drei Eigentore auf einmal. Erstens schwächte Laschet mit seiner Kritik Merkel – zum Schaden der CDU. Zweitens delegitimierte er sich selbst als mitentscheidenden  Ministerpräsidenten. Und drittens vor allem meinte er sich offenbar bei dem anbiedern zu müssen, was er für „die Meinung der Wirtschaft“ hält, wie unsouverän: Zielgruppenabhängiges Reden und politisches Catering für Partikularinteressen ist exakt das, was die Deutschen von einem Kanzler nicht erwarten.

Söder scheint über derlei Fallstricke inzwischen fast schon erhaben zu sein, steht über allen Widersprüchen. Einmal Zero-Covid-Strategie und zurück in sieben Tagen? Für den CSU-Chef kein Problem: Er pflegt seine eigene Politik stets wohlwollend zu besprechen, teilt sich selbst „politische Klugheit“ zu und passt natürlich genau den richtigen Moment für eine „intelligente Öffnungsmatrix mit flexiblen Reaktionsmöglichkeiten“ ab. Tatsächlich ist Söder als politischer Chefrezensent des Landes bereits so sehr in die Rolle eines Hegemons hineingewachsen, dass man sich fragt, ob die Union an ihm überhaupt noch vorbeikommen kann als Kanzlerkandidat.

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Söder übermalt seit zwei Jahren erfolgreich den Markenkern der Schwesterparteien, bietet liberalkonservativen Wählern etwas Bejahbares an: einen grünliberalen Konservativismus, der nicht den „linken Zeitgeist“ verabscheut, sondern aufnimmt, ihn sich anverwandelt, ihn produktiv umdeutet – eine Meisterleistung des Opportunismus. Da ist tatsächlich einer, der Gelegenheiten nutzt, den Zeitgeist ausbeutet, die Gegenwart bespielt – und der auf Gutsherrenart Gunst und Gnade gewährt, wann immer es ihm passt, ganz so wie weiland Helmut Kohl, der andere lobend hinzurichten verstand: Die Grünen etwa, sagt Söder, seien „charmant“ (also nicht kompetent und leider auch etwas unseriös) – und die FDP „immer der prioritäre Partner (wenn es für die Liberalen zu fünf Prozent reicht, so Söder – und sofern Christian Lindner weiter an sich arbeitet als einem „seriösen Partner“). So geht Wahlkampf mit Niveau – Chapeau!

Mehr zum Thema: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) über Luftfilter und die Zukunft der SPD.


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