Mitgliederzahlen von Parteien werden meist nur erwähnt, um ihren Niedergang zu illustrieren. Die alte Tante SPD: Seit Jahren laufen ihr die Mitglieder weg, von der knappen Million der Neunzigerjahre ist nur noch die Hälfte übrig. Die FDP, einstiges Sammelbacken der progressiven Elite: Von den 160 000 Mitgliedern nach der Wende ist nur noch ein Drittel übrig.
Die Aufzählung lässt sich fast beliebig fortsetzen. Die deutschen Parteien eint, dass sie trotz einer leichten Stabilisierung in den vergangenen Jahren weit entfernt sind von den Mitgliederrekorden der Vergangenheit. Das zeigt die Addition der Mitgliederzahlen aller Parteien:
Aber was bedeutet das für die deutsche Parteienlandschaft? Zunächst nicht viel. In Zeiten, in denen Sportvereine wegen Mitgliedermangel schließen und freiwillige Feuerwehren vor einer Unterversorgung warnen, ist es eigentlich kein Wunder, dass auch die im Kern ehrenamtlich organisierten Parteien Probleme bekommen. Dass die politische Beteiligung generell sinkt, zeigt sich auch an der sinkenden Wahlbeteiligung und ist zunächst ein gesellschaftliches Problem, kein parteipolitisches.
Dennoch sind die Zahlen auch wahltaktisch von Interesse. Denn sie verraten sehr viel darüber, wie gut es den verschiedenen Parteien gelingt, an der Basis Wähler zu mobilisieren. Wenn man sich der These anschließt, dass Wahlverhalten vor allem vom persönlichen Umfeld bestimmt wird (LINK Bertelsmann-Studie), kommt Parteimitgliedern eine besondere Bedeutung zu. Nur wenn es jedem einzelnen gelingt, sein politisch ungebundenes persönliches Umfeld von „seiner“ Partei zu überzeugen, hat sie eine Siegchance.
Vergleicht man das Verhältnis von Parteimitgliedern zu Wählern (wir werden dies die „Mobilisierungsrate“ nennen), fällt zunächst ein grundlegender Unterschied auf. Bei den Volksparteien (CDU, SPD und CSU) gelingt es jedem Parteimitglied durchschnittlich nur zwischen 15 und 26 ungebundene Personen zu überzeugen. Bei den kleineren Parteien sind es deutlich mehr, den absoluten Rekord verzeichneten die Grünen 2009 mit einer Mobilisierungsrate von 96,7.
Dieser Unterschied lässt sich wahrscheinlich mit den Machtoptionen der Mitglieder erklären. Da nur die großen Parteien bei Personenwahlen eine Chance haben, gibt es hier für Parteianhänger einen Anreiz, Mitglied zu werden, den Kleinparteien nicht bieten können. Mitglied werden hier nur die Parteianhänger, die mit der Mitgliedschaft ihrer ideologischen Verbundenheit Ausdruck verleihen wollen. Alle Werte für 2009:
Partei | Mobilisierungsrate* |
CDU | 23,1 |
SPD | 19,2 |
CSU | 17,8 |
Grüne | 96,7 |
FDP | 87,7 |
Linke | 66,1 |
Piraten | 70,7 |
*In der Mobilisierungsrate sind auch die Stimmen der Parteimitglieder enthalten. Die Beschreibung „Anzahl der überzeugten Wähler“ müsste daher jeweils um den Wert 1 nach unten korrigiert werden. Darauf wird verzichtet, da die Rate keinen Anspruch auf die Abbildung realer Wahlmotive erhebt.
Aufschlussreich sind daher vor allem die Veränderungen der Mobilisierungsraten im Zeitverlauf. Wir haben dafür auf Basis der jährlichen Zählung des Berliner Parteienforschers Oskar Niedermayer Mobilisierungsraten für alle Wahlen seit 1969 errechnet, für weiter zurückliegende Wahlen ist die Datenlage, insbesondere bei der FDP, leider zu dünn.
Probleme mit Mitgliedern größer, als die mit Wählern
Das Ergebnis ist durchaus überraschend. Die konstanteste Rate weist ausgerechnet die SPD auf, die bei den vergangenen Wahlen so große Verluste hinnehmen musste. Zwischen der höchsten und niedrigsten Rate liegen bei ihr gerade einmal 11 Punkte, bei den anderen Parteien sind es zwischen 21 (CSU) und 69 (Grüne).
Wenn man sich auf die Jahre seit der Wiedervereinigung konzentriert, sind die Werte aller Volksparteien aber nicht nur vergleichsweise gering, sondern auch relativ konstant. Die Werte der kleinen Parteien schwanken deutlich stärker, wenngleich hier zwei Sondereffekte zu beachten sind:
Die Linke bestand direkt nach der Wiedervereinigung (damals noch als PDS) vor allem aus den Nachfolgemitgliedern der SED. Ihre Mitgliederzahlen verringerten sich daher in den Folgejahren sehr deutlich, deshalb können erst die Werte ab 1998 für einen Vergleich herangezogen werden.
Umgekehrt bei der FDP: Im Freiheitsrausch nach dem Mauerfall verzeichnete die Partei einen massiven Mitgliederzuwachs (1987:64.000; 1990: 168.000), viele der Neumitglieder wendeten sich jedoch schnell wieder von der Partei ab. Zumindest der Wert von 1990, vielleicht auch das von 1994 ist daher ebenfalls als historischer Sonderfall zu betrachten.
Trotz dieser Sondereffekte bleibt eine erstaunlich große Schwankung der Mobilisierungsraten, die zudem in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Dies dürfte ein Abbild des sich wandelnden Wahlverhaltens sein. Der Kern der langfristig festgelegten Wähler stagniert, die Zahl der wechselbereiten Wähler wird größer. Für kleine Parteien liegt das Potenzial heute zwischen dem 25-fachen und dem hundertfachen der Mitgliederzahl. Am Beispiel der FDP: Mit vergleichbarer Mitgliederzahl (ca.70.000) hat die Partei 1998 nur drei Millionen und 2009 mehr als sechs Millionen Stimmen geholt.
Bei den großen Parteien ist das Mobilisierungspotenzial hingegen nicht so groß. Als die SPD 1998 und 2005 rund 26 Mal so viele Wähler holte, wie sie Mitglieder hatte, waren das historische Ausnahmen. Bei ihrem deutlichen Wahlsieg 2009 kam die CDU nur auf das 23-fache. Für die großen Parteien ist deshalb eine intakte Parteibasis deutlich wichtiger als für die kleinen Programmparteien.
Das Problem der SPD ist deshalb auch weniger eines mit den Wählern als mit den Mitgliedern: Traditionell besonders stark im Lebensumfeld ihrer Anhänger verhaftet, schmerzt die Partei der Mitgliederschwund stärker als andere. Der Partei ist dabei in den letzten Jahren offenbar das Geschäftsmodell abhandengekommen.
Denn den Konkurrenten ist es entweder gelungen, ihre Mitgliederzahlen auf einem vertretbaren Niveau zu stabilisieren (CDU, CSU) oder vermehrt Stimmen von Nicht-Mitgliedern zu bekommen (Linke, FDP, Grüne). Letzteres macht die Wahlergebnisse zwar besonders volatil, sorgt im Mittel aber für einen Aufwärtstrend.
Die SPD jedoch ist in einer Zwischenrolle gefangen. Ihre Mitgliederzahl ist inzwischen zu gering, um mit den in der Vergangenheit üblichen Mobilisierungsraten vertretbare Ergebnisse zu erzielen. Die Wechselwähler im linken Lager zu überzeugen ist bei den vergangenen Wahlen aber n den Grünen und der Linken besser gelungen.