Wahlsager

Ist die Wahl schon längst gelaufen?

Konrad Fischer Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Konrad Fischer Ressortleiter Unternehmen und Technologie

Immer mehr Menschen, so hämmern uns die Demoskopen ein, treffen ihre Wahlentscheidung immer später. Eine neue Studie zeigt: Es gibt viel weniger unentschlossene Wähler als vermutet.

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Im Wahlkampf sind sie letzte Hoffnung der Abgehängten und Sorgenkind des Führenden zugleich: die Spätentscheider. Denn immer mehr Menschen, so die verbreitete Binse, treffen ihre Wahlentscheidung erst unmittelbar vor der Wahl oder am Wahltag selbst. Experten und Kommentatoren beziffern den Anteil mal auf ein Viertel oder auf ein Drittel aller Wahlberechtigten. Laut Politbarometer waren im August noch mehr als 70 Prozent aller Wähler unsicher, wem sie ihre Stimme geben sollten, noch Tage vor der Landtagswahl in Bayern hieß es, die Hälfte aller Wähler sei unentschieden. Daraus folgt, mal als Warnung vorgetragen, mal als Antrieb: Alles ist noch möglich.

Mit der Realität hat dieses Bild eines Rennens, das sich scheinbar erst auf den letzten Metern entscheidet, aber nichts zu tun. Dieses überraschende Ergebnis legt eine Studie der Universität Mannheim nahe, die uns exklusiv vorliegt. Unter dem Titel "Der Zeitpunkt der Wahlentscheidung" (erscheint demnächst im Nomos-Verlag) weist der Politikwissenschaftler Thomas Plischke  nach, dass die gesamte Debatte um unentschiedene Wählern auf einer Kette von Missverständnissen basiert.

WiWo-Wahlsager: So wird Deutschland wählen

1. Der Anteil der Spätentscheider ist dramatisch angestiegen

Es stimmt, dass viele Wähler heute angeben, sich erst später auf eine Partei festlegen, als sie es in den Sechziger- oder Siebzigerjahren taten. Ein großer Teil dieser vermeintlich dramatischen Veränderung erklärt sich zum einen aus dem Wandel der sozialen Normen. Überspitzt gesagt: Während früher schon als Wendehals galt, wer sich nicht klar zu einem politischen Lager bekannte, steht heute mehr die Rationalität der Wahlentscheidung im Vordergrund. Wer sich da zu früh festlegt, muss mit dem Verdacht leben, sich schlicht zu wenig informiert zu haben. Mit anderen Worten: Früher galt es als chic, sich möglichst früh zu bekennen. Heute wird der ein oder andere in Umfragen angeben, dass er sich noch nicht entschieden habe – auch wenn das Gegenteil der Fall ist.

Vor allem aber spielt auch die Methodik der Umfragen eine Rolle. Früher wurden  die meisten Umfragen persönlich durchgeführt, heute befragen mit Ausnahme von Allensbach sämtliche Institute per Telefon. Und dieser kleine Unterschied hat offenbar eine unbeabsichtigte Nebenwirkung.

In telefonischen Befragungen ist der Anteil unentschlossener Wähler, die "weiß nicht" auf die Frage nach der Wahlabsicht antworten sehr viel höher als in persönlichen. Die Ursache: Während in persönlichen oder Online-Umfragen den Befragten Musterstimmzettel vorgelegt werden, wird die Frage nach der Wahlabsicht am Telefon offen gestellt („Für welche Partei würden Sie sich entscheiden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“). Ein scheinbar kleiner Unterschied, der aber dramatische Effekte hat.

Besonders deutlich zeigten sich die unterschiedlichen Auswirkungen unterschiedlicher Frageformate jüngst nach dem TV-Duell: Als Antworten auf die Frage nach dem Sieger des TV-Duells bot Infratest dimap den Befragten nur die Antwortmöglichkeiten Merkel und  Steinbrück an, bei der Forschungsgruppe Wahlen gab es zusätzlich die Option "kein Unterschied". Ergebnis: in der ARD gewann Steinbrück das Duell mit fünf Punkten Vorsprung, nur sieben Prozent konnten sich nicht entscheiden.  Im ZDF hingegen lag die Kanzlerin sieben Punkte vorn, zugleich werteten 27 Prozent der Befragten das Duell als Unentschieden.

Ähnlich bei den Unentschlossenen:  Ihr Anteil ist in telefonischen Befragungen mitunter doppelt so hoch wie in zeitgleich durchgeführten persönlichen Befragungen.

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Daraus folgt, dass der Anteil der Spätentscheider früher zwar unterschätzt wurde – heute aber wird er überschätzt. Da weder die eine noch die andere Methode als falsch oder richtig identifiziert werden kann, ist es extrem schwierig, aus diesem Befund Rückschlüsse auf die Wahlprognose zu ziehen. Bei der Bundestagswahl 2005 standen beispielsweise die in telefonischen Umfragen unentschlossenen Wähler mehrheitlich den damaligen Regierungsparteien SPD und Grüne nahe, man könnte also vermuten, dass der Anteil der zu SPD oder Grünen tendierenden Wähler bereits lange vor der Wahl deutlich höher war, als das die Umfragen nahelegten. Zumindest kann man das Wahlergebnis im Nachhinein so lesen. Eine Übertragung auf die aktuelle Wahl ist jedoch schwer. In der Tendenz legen aber die alternativen Prognoseverfahren (Wahlbörsen, Expertenbefragungen; siehe) nahe, dass insbesondere die SPD auch in diesem Jahr wieder leicht unterschätzt wird, die Union eher überschätzt. 

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