Dies verdeutlicht einen letzten Punkt, an dem wir nicht vorbeigehen können. Schauen wir dazu einmal nur auf „freundliches“ Wollen. Welches davon sollte in der Gesellschaft zum Zuge kommen? Welcher dieser Akteure sollte sich durchsetzen? Wohlverstandener Freiheit gilt das Wollen aller Akteure gleich. Sie enthält sich eines differenzierenden (und damit diskriminierenden) Urteils. Weder stellt sie das eigene Wollen über das Wollen anderer, noch bevorzugt sie das, was die einen wollen, gegenüber dem, was die anderen wollen. Wir können das so ausdrücken: Wohlverstandene Freiheit ist wesentlich tolerant.
Vielleicht ist dieser letzte Aspekt an der Freiheitsidee derjenige, den man am ehesten zugleich anerkennen und doch missachten kann. Dies würde verständlich machen, warum menschliche Gesellschaften regelmäßig Konventionen finden, die hier Abhilfe schaffen sollen. Um die Möglichkeit eines allseitigen und möglichst unbehinderten Wollens sicherzustellen, muss ja jede Dominanz unterbunden werden, die nicht freiwillig eingeräumt wird. Darin kann man die eigentliche Aufgabe des Rechts und seiner Durchsetzung sehen. Unabhängig von allen religiösen oder metaphysischen Quellen, die man für das Recht und seine Geltung so oft bemüht hat, ist das Recht so verstanden seiner Anlage nach wesentlich ein Werkzeug zur Sicherung der Freiheit.
Trotz mancher historischer Ausnahmen (z.B. im mittelalterlichen Island) gilt die Durchsetzung des Rechts als klassische Aufgabe des Staates. Die Geschichte spricht nicht unbedingt dafür, dass diese Aufgabe bei ihm immer in den besten Händen war. Der zur Rechtsdurchsetzung erforderliche, eigentlich schmale Zwangsapparat ist schnell um - und ausgebaut. Er eignet sich dann leider auch zu inhumanen Zwecken bis hin zu totalitärer Repression. Ob es demokratischer Machtkontrolle gelingt, dieses Gruselkabinett verschlossen zu halten, ist ein Experiment mit offenem Ausgang. Setzt man diese Bedenken aber einmal beiseite, dann hätte der Staat mit der Rechtsdurchsetzung jedenfalls ein Betätigungsfeld, das im Interessensschnittpunkt aller Akteure liegt. Schließlich handeln Akteure. Damit bauen sie darauf, dass die dafür nötige Freiheit gesichert ist. Weil jedoch der egalitäre Zug der Freiheit die Privilegierung jedes Wollens ausschließt, ist Rechtsdurchsetzung als Freiheitssicherung eine Aufgabe, die im Gegensatz zu jeder sonst bekannten politischen Agenda steht. Wer politische Macht erringt, sieht sich ja geradezu dazu aufgerufen, zu „gestalten“, also für die Durchsetzung eines bestimmten Wollens zu sorgen.
Politik erleben wir daher als Erzwingung ungewollten Tuns, als Verhinderung gewollter Kooperation, als Umverteilung (von oben nach unten und von unten nach oben) sowie als Autorität beanspruchende, monopolistische Inanspruchnahme unbestreitbaren Wissens über das, was uns in allen Lebensbereichen nutzt und frommt. Könnte jeder von uns (in einer mit dem Wollen anderer verträglichen Weise) tun, was er will, wären wir also so frei, wie man es in einer Gesellschaft sein kann, dann gäbe es schwerlich noch eine Politik, wie wir sie real erfahren. Die reale Politik scheint davon zu leben, dass wir die Inkonsequenz nicht bemerken, mit der wir einerseits durch unser tägliches Handeln auf die Hindernisfreiheit setzen und andererseits regelmäßig Politiker beauftragen, die Hindernisse für Handlungserfolge errichten.
Hier ein ganz grundlegendes Verständnis von Freiheit in Anschlag zu bringen, bedeutet, ganz unpolitisch auf solche Inkonsequenzen aufmerksam zu machen. Indem man darauf hinweist, dass unzählige Verbote und bürokratische Regulierungen von den Bürgern als Hindernisse empfunden werden, das zu tun, was sie wollen, beschwört man keinen „Wert“ herauf oder redet einer besonderen Weltanschauung namens Liberalismus das Wort. Man erinnert lediglich daran, dass wir die Gesellschaft, also die den Kreis familiärer Bindungen überschreitende Gegenwart anderer Menschen, mutmaßlich deshalb hinnehmen, weil die in ihr schlummernden Kooperationsmöglichkeiten uns Handlungserfolge verheißen, die wir ansonsten nicht erzielen könnten. Zudem macht vermutlich schon die Aussicht auf künftige Kooperation toleranter, friedfertiger, kompromissbereiter und solidarischer, als wir es ohne sie wären.
Wenn wir also auf das ganz grundlegende Verständnis von Freiheit schauen, sehen wir: In diesem Sinne ist jeder Akteur ein Freund der Freiheit. Daran zu erinnern, ist kein Werben für blinde Ichsucht. Man trägt so im Gegenteil der Einsicht Rechnung, dass eine Gesellschaft ohne Freiheit zerfällt: Je stärker mein Handlungsradius durch Politik eingeschränkt wird, desto weniger bin ich ein attraktiver Kooperationspartner. Wenn das für Millionen von Akteuren gilt, dann unterminiert Politik den sozialen Zusammenhalt, ganz gleich, mit wie brüderlicher Worten sie dies tut.