Wege aus der Thüringen-Krise „Eine Expertenregierung ist nicht der Königsweg“

Thüringen hat auch Monate nach der Landtagswahl keine neue Regierung. Quelle: dpa

Sollte Thüringen übergangsweise von Fachleuten jenseits der Politik regiert werden? Der Politologe Uwe Jun über das Für und Wider von Technokraten-Kabinetten, den Vorreiter Österreich – und drohende Kosten für die Demokratie.

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Seit der umstrittenen Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich am 5. Februar zum thüringischen Ministerpräsidenten und dessen Rücktritt befindet sich das Bundesland in einer schwierigen Lage: Der in den vorigen Wahlgängen gescheiterte Bodo Ramelow von der Linkspartei schlug nun am 18. Februar die frühere CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht als Kompromisskandidatin vor. Uwe Jun, 57, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier und erklärt im Interview mit der WirtschaftsWoche das Für und Wider einer Expertenregierung.

Herr Jun, Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat in der WirtschaftsWoche jüngst eine Expertenregierung für Thüringen ins Spiel gebracht. Ist das ein kluger Schritt, um die dortige Krise aufzulösen?
Eine Expertenkabinett ist ein Mittel zum Zweck und gibt Parteien jedenfalls die Möglichkeit, ihre Regierungsfähigkeit wiederherzustellen. Sie verschafft Zeit – Zeit, die man nutzen sollte. 

Aber ist es eine kluge Strategie?
Das kommt eben drauf an. Wenn Parteien die Zeit strategisch nutzen, um nach Neuwahlen, auf die eine solche Phase der unpolitischen Regierung stets hinausläuft, wieder handlungsfähig zu sein - dann ja. In Österreich, und dorthin verweisen die Befürworter derzeit gern, war danach eine Regierung aus ÖVP und Grünen möglich.

Würden Sie das Experiment in Wien folglich als gelungen betrachten?
Die Übergangregierung hat das Parlament zeitweilig von Koalitions- und Fraktionszwängen befreit. Für ein parlamentarisches System, das sonst auf der Einheit von Exekutive und Mehrheits-Legislative beruht, bedeutet das eine spannende Lockerungsübung. Von Dauer ist es nicht.

Müssen wir uns darauf einstellen, dass Expertenregierungen häufiger werden? Das Parteiensystem zersplittert, Abgrenzungsbeschlüsse werden hochgehalten. Da wird es immer komplizierter, Koalitionen zu schmieden.
Sie sind in der Tat ein Zeichen der Zeit. Die Segmentierung verstärkt sich, die Volksparteien verlieren an Bindekraft. Das jüngste Beispiel war Österreich, ähnliches gab es vor einigen Jahren in Italien unter Mario Monti. Bald vielleicht in Thüringen. Aber meines Erachtens wäre das nicht der Königsweg, um sich aus verfahrenen Lagen zu befreien.

Welcher dann?
Parteien müssen intensiv darüber nachdenken, wie parlamentarische Handlungs- und damit Beschlussfähigkeit künftig auch jenseits von klaren Koalitionsmehrheiten herstellbar ist. Tolerierung von Minderheitsregierungen, klare, punktuelle Kooperationen in einzelnen Politikfeldern - das wäre aus meiner Sicht besser.

Verwischt dabei nicht das Profil von Parteien?
Ich glaube, das Gegenteil wäre der Fall. Denn Profil leitete sich dann viel eindeutiger aus Zustimmung zu konkreten Gesetzen ab, nicht aus diffuser Loyalität zu einer vielleicht ungeliebten Koalition und deren Gesamtagenda. Für die jeweilige Minderheitsregierung ist dieses Modell allerdings ziemlich komplex, es macht die Sache unübersichtlicher, schwerer – und im Zweifelsfall auch teurer.

von Benedikt Becker, Simon Book, Sven Böll, Max Haerder, Cordula Tutt

Gibt es eigentlich Befunde, inwiefern technokratische Expertenregierungen bei politikmüden Wählern ankommen?
Keine belastbaren, nein. Ein Punkt ist aber sehr wichtig: Wenn Technokratie häufiger das Ergebnis demokratischer Wahlen sein sollte, schwächt das auf Dauer die Demokratie. Anders gewendet: Ein politischer Prozess ist nicht dazu da, sich selbst zum Verschwinden zu bringen.

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