Werner knallhart
Verkehrschaos: Hier beginnt der Niedergang des Rechtsstaats Quelle: imago images

Der Niedergang des Rechtsstaats beginnt beim Halteverbot

Verkehrschaos in deutschen Innenstädten, weil jeder, egal ob Fußgänger, Auto- oder Radfahrer, meint, selber aussuchen zu dürfen, welche Verkehrsregeln er akzeptiert. Denn der Staat schafft es nicht, sich durchzusetzen.

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Wir können uns doch eigentlich selber auf die Schulter klopfen zu unserer Verfassung und allem, was sich ihr an Regelwerken unterzuordnen hat. Denn dank der Demokratie ist es ja unser eigenes Werk. Aber nirgendwo zeigen wir stärker die Respektlosigkeit gegenüber den uns selbst auferlegten Regeln als im Straßenverkehr. Ich habe den Eindruck: Weil sich die meisten nicht trauen, ihren Lebensfrust abzureagieren, indem sie einen Wildfremden auf der Straße einfach nur mal anschreien, setzen sie sich aufs Fahrrad oder ins Auto und zelebrieren ihre Rebellion gegen alles, was sie klein macht. Die anderen Leute und den Staat.

Denn schnauzen Sie jemand Fremden auf der Straße an, droht Ihnen die spontane Revanche durch einen Faustschlag ins Gesicht. Erheben Sie sich aber über die anderen, indem sie auf ihre Kosten gnadenlos die Verkehrsregeln missachten, kommt es zu einer spektakulären Moralumkehr zu Ihren Gunsten. Denn wer sich nun Ihre Autonummer merkt und Sie anzeigt, ist aus Sicht vieler natürlich ein widerlicher Spießer, der sich den Polizeistaat wünscht. „Echt? Du hast die Polizei gerufen? Alter, chill mal dein Leben.“

Nach dem, was ich so in letzter Zeit in deutschen Innenstädten erlebt habe, frage ich mich: Gibt es nicht einen Mittelweg zwischen Polizeistaat und einem Staat mit Bürgern und Behörden, denen die eigenen Regeln wurscht sind?

Ich möchte mal einiges aufzählen, damit Sie wissen, was ich meine:

1. Halteverbotsschilder: crazy Streetart in Rotblau

Seit einigen Monaten sammelt der „Tagesspiegel“ bei der Aktion „Gefahrenmelder“ unter seinen Lesern Tipps, welche Stellen auf Berlins Straßen sie als besonders gefährlich einstufen. Es stellt sich raus: Zu einem guten Teil macht nicht nur die katastrophale Infrastruktur, sondern auch die Ignoranz der Anderen den Leuten auf der Straße das Leben zur Hölle. Vor allem falsches Parken.

In Berlin hat man den Eindruck: Halteverbotsschilder sind vor allem dazu da, um coole Sticker drauf kleben zu können („Ich komm' aus Muschi, du Kreuzberg“).

Und das Schild zum eingeschränkten Halteverbot (das nur einmal durchgestrichene „Parkverbot“) provoziert hierzulande mittlerweile oft nur noch Achselzucken: „Wenn es hier nicht zu gefährlich ist, ein paar Minuten zu halten, warum sollte es dann zu gefährlich sein, hier zu parken?“ Und so sind ganze Hauptverkehrsstraßen etwa in Berlin nahtlos mit Autos zugerammelt. Obwohl es verboten ist. Radfahrer, Busse und Lieferfahrzeuge (die dann eben in zweiter Reihe halten müssen) kommen sich so gefährlich ins Gehege.
Hätten Halteverbotsschilder Gefühle, ihr Leben käme ihnen so leer und sinnlos vor.

2. Die Busspur: Exklusivspur für selbsternannte VIPs

Busspuren sind in Wirklichkeit ja gemacht für die richtig geilen Hengste. Die teilen sich diese Spur nämlich exklusiv mit den Bussen und Taxis. Brumm, an den Jammerlappen im Feierabendstau vorbei! Weil: Geile Hengste haben es fast immer eilig. Denn Mama hat gesagt: „Komm nicht so spät aus dem Fitnessstudio.“ Und wenn Mama nix gekocht hat, kann man auf der Busspur auch gut parken, um schnell bei Dominos Pizza reinzuspringen. Auf der Busspur ist immer ein Parkplatz frei.

3. Die Fußgänger: Anarchie auf zwei Beinen

Fußgänger wurden in der autofreundlichen Stadt der 60er-Jahre abgestempelt zu lästigen Bremsklötzen. Wenn die über die Straße wollen, sollen die sich gefälligst beeilen. Sonst setzt es eine Hup-Attacke aus nächster Nähe. Adrenalinschub ferngesteuert. Doch mittlerweile schlägt es um: Die Menschen erobern sich die einst vom Auto eingeheimste Stadtfläche zurück. Mit Gewalt!

Rote Fußgängerampeln werden oft nur als Vorschlag zum Warten angesehen. Das liegt auch an dem Irrsinn, diese Ampeln mitten in der Nacht anzulassen, falls pro Stunde ein Auto durchkommt. Wer um drei Uhr nachts die Ampel zu hassen lernt, liebt sie nicht um drei Uhr nachmittags. Außerdem hat sich längst rumgesprochen, dass der Tastendruck zur Anforderung von Grün ganz oft Fake ist. Insbesondere in der Hauptverkehrszeit. „Signal kommt“, ja danke. Aber es wäre ohne Tastendruck genauso schnell gekommen. Wegen eines einzelnen Fußgängers wird noch nicht die grüne Welle unterbrochen. Nur: Was verkehrspolitisch insgesamt Sinn macht, macht keinen guten Eindruck auf die Schwächsten im Spiel. Kein Respekt vonseiten der Ampel. Kein Respekt für die Ampel. Und rüber bei Rot.

Jüngst marschierte eine Fußgängerin auf einer viel befahrenen vierspurigen Hauptverkehrsader in Berlin erhobenen Hauptes vor die heran rasenden Autofahrer direkt vor mir. Als dutzende Autoreifen quietschten und etliche Autos hupten, zeigte sie erbost auf die Fußgängerampel vor ihr und schrie einen Fahrer an: „Ja, die Ampel ist halt kaputt, du Idiot!“ Fußgänger fühlen sich als die armen Opfer des Straßenverkehrs. Unterdrückt, veräppelt, auf schmale Streifen abgeschoben. Sie machen die Ordnungswidrigkeit zur Rebellion gegen die Stärkeren.

Geschwindigkeitsbegrenzung und die Behörden

5. Geschwindigkeitsbegrenzung: Sich dran halten ist Nötigung

Sind Sie ein Mensch mit starken Nerven? Dann fahren Sie mal durch eine deutsche Großstadt und halten Sie sich in der 30er-Zone ans Limit. Hinter Ihnen werden die Autofahrer die Nerven verlieren – wie kann man nur so provokativ rumtrödeln wie Sie? Fußgänger, die in verkehrsberuhigten Zonen (in denen Schrittgeschwindigkeit gilt), durch ihre bloße Anwesenheit Autofahrer am Durchrasen hindern, können froh sein, wenn sie nur beleidigt werden. Absichtlich nah ranfahren, um die Fußgänger in Todesangst zu versetzen – schon öfters miterlebt.

In einer Straße in meiner Nachbarschaft gilt Tempolimit 10km/h. Praktisch jeder, der da durchfährt, wäre bei einer Kontrolle den Lappen los. Und dennoch wird dort ganz entspannt gerast. Aus gutem Grund. Und der kommt jetzt.

6. Die Komplizen: die Behörden

Regeln ignorieren, das kann man ohne viel Mut riskieren. Denn es gibt noch eine andere Regel. Eine, die das Leben schreibt. Und die lautet: „Die kontrollieren hier eh nicht.“

Jüngst erzählte mir ein Freund aus NRW: „Gestern war die Straße in unserer Wohnsiedlung wieder komplett vollgeparkt. Jeden Sonntag geht das so. Wegen einer Kirchenveranstaltung. Trotz Parkverbot von vorne bis hinten, Jedes Feuerwehr-Löschfahrzeug würde stecken bleiben. Mehrere Wohnblocks ohne Rettung im Notfall. Ich rufe das Ordnungsamt an. Geht keiner dran. Ich rufe die Polizei an. Die verweist mich ans Ordnungsamt. Stichwort: ruhender Verkehr. Ich sag: ‚Da geht keiner dran. Sind Sie als Polizei nicht die Vertreter des Ordnungsamt am Sonntag?‘ Sagt der Polizist: ‚Ja, aber für Parkverbotsgeschichten haben wir keine Zeit.‘“

Da wird reihenweise geltendes Recht ignoriert. Aber keine staatliche Ordnungsmacht weit und breit, die helfen kann oder will. Weil Sonntag ist! Leute! Andere Freunde erzählen mir: „In unserer Straße darf man nie parken außer sonntags.“ Weil da nämlich das Ordnungsamt zu hat. Wer sich darüber beschwert, dass sich in diesem Land nichts bewegt – och, es klappt noch nicht mal mit einer Rettungsgasse. Kein Bock, keine Zeit, nicht zuständig. Und Bürger, die nach Recht und Ordnung fragen, bekommen das schlechte Gewissen eingeredet, die personell unterbesetzten und deshalb überforderten Behörden mit Lächerlichkeiten zu nerven.

Wenn unser Staat ausstrahlt, unsere eigenen Vorschriften seien im Grunde Kleinkram, um die zu kümmern es sich nicht lohnt, dann kommt man sich als derjenige blöde vor, der aus Rücksicht auf andere tut, worauf wir uns in Regeln geeinigt haben. Die gesetzestreuen Autofahrer, Radfahrer und Fußgänger als Luschen ohne Eier.

Vorgestern wäre ein Bekannter von mir fast mit dem Motorrad gestützt, als ein Radfahrer von rechts auf seine Fahrbahn geschossen kam und keifte: „Rechts vor links, Wichser!“

Dass der Radrowdy aus einer für jede Durchfahrt gesperrten Spielstraße gekesselt kam, war ihm egal. Sich an die Regeln zu halten, hätte ja einen Umweg bedeutet.

Aber da kann man nichts machen. Denn Gesetzestreue im Straßenverkehr ist überbewertet. Amtlich bestätigt.

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