Warum gilt auf regionaler Ebene als auf goldige Weise unverbesserlich folkloristisch, was auf nationaler Ebene fremdenfeindlich ist?
Es gibt nicht wenige Experten, die damit rechnen, dass in der zunehmend globalisierten Welt die Bedeutung von Nationalstaaten und Ländern mittelfristig abnehmen wird. Die Bedeutung von Regionen als kulturelle und wirtschaftliche Einheiten wird dafür zunehmen. Außerdem zieht es schon jetzt die Menschen vom Land in die Städte. Unsere traditionelle Zugezogenen-Feindlichkeit ist da nicht nur peinlich, sondern schädlich.
Erprobte Metropolisten wie die New Yorker können über das typisch deutsche Ausgrenzen Zugezogener aus Tradition denn auch nur mitleidig lächeln.
So kann das nicht weitergehen. Nehmen wir als Paradebeispiel Berlin. Seit etwa zwei Jahren sind laut Statistik die zugezogenen Berliner den gebürtigen Berlinern zahlenmäßig überlegen. Ein Großteil kommt übrigens aus Ost- und Norddeutschland.
Und in einer Demokratie ist 50 Prozent+ eine durchaus relevante Größe. Theoretisch könnten die Zugezogenen Politik allein für Zugezogene machen. Da sollte jeder gebürtige Berliner den Ball schön flach halten und jeden Zugezogenen, der sich einfach als Berliner ohne Vorzeichen zieht, mit Liebe und Zuneigung begegnen.
Die Zugezogenen geben der Stadt zur Hälfte das Gesicht, das die Welt so liebt. Viele Zugezogene kommen in die Stadt wegen des Jobs und zahlen dort ihre Steuern. Viele gebürtige Berliner profitieren davon. Wie traurig stünde Berlin da ohne die neuen Berliner? So gesehen ist dieses „Du bist kein Berliner“ ja regelrecht undankbar.
Der typische Deutsche hat heute ein Mobiltelefon. Auch wenn das vor 20 Jahren noch nicht so war. Und der typische Berliner ist heute zugezogen. Auch wenn das vor zehn Jahren noch nicht so war. Sorry, Ur-Berliner, der Zugezogene ist jetzt das Original.
Und das ist nicht nur eine Floskel. In Kreisen der Tech-Start-ups über die Clubszene, die Medien bis hin zur Gastronomie – also in den Bereichen, in denen Berlin weltweit ganz vorne mitspielt – geht man automatisch davon aus, dass Berliner ein Vorleben in einer anderen Region der Welt haben. Sagt dort jemand: „Ich bin hier geboren“, dann ist das mitunter etwas ganz Besonderes. Und trotzdem ist der gebürtige Berliner natürlich herzlich willkommen. Man ist ja weltoffen.
Das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Alles andere ist ein Zeichen von schlechtem Selbstwertgefühl. Und nicht zukunftssicher. Ich bin Berliner und auch Nordrhein-Westfale. Und ein bisschen Schleswig-Holsteiner mit einem Hauch Ostfriesland und Baden. Eigentlich ist es mir egal. Aber wenn es schnell gehen muss: „I am from Berlin.“ Das ist eine Tatsache.
Wolfgang Thierse hat damals als Reaktion auf Proteste tausender Zugezogener übrigens alle Schwaben in Berlin ausdrücklich willkommen geheißen. Wie edel von diesem gebürtigen Breslauer - und Berliner. Der Mann hat offenbar verstanden: Weltoffenheit fängt schon beim Bäcker an der Ecke an, wenn man Schrippen, Weckle und Berliner bestellt.