Werner knallhart
Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Motto Zeitenwende - Deutschland packt das. Quelle: imago images

Sind wir zu egoistisch für die Zeitenwende?

Große Herausforderungen schaffen wir nur gemeinsam. Doch schon an der Supermarktkasse zeigt sich: Vielen sind die anderen völlig egal. Schafft es ausgerechnet Scholz, das Gemeinschaftsgefühl wachzurütteln? Eine Kolumne.

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Ab jetzt geht ICE-Fahren wieder ohne FFP2. Das passt zur Lage. Allerdings sind FFP2-Masken auch wirksam, wenn sie nicht vorgeschrieben sind. Haben Sie aber schon erlebt, dass jemand dort, wo Masken nicht vorgeschrieben sind, eine trägt und sagt: „Ich bin erkältet und möchte meine Mitmenschen schützen“?

Es kommt den allermeisten doch wohl völlig abwegig vor, Wildfremden in der U-Bahn zuliebe eine Maske aufzusetzen. Wildfremde. Ist doch egal, ob die krank werden! Die würden mir zuliebe doch auch keine Maske tragen! Das ist das deutsche Denken.
Und dann fahren Sie mal in Bangkok mit der Hochbahn. Da wären sich schon Jahre vor der Pandemie Menschen begegnet, die OP-Masken tragen. Als ich einmal einen Fahrgast gefragt habe, wovor er denn Angst habe, bekam ich als Antwort: „Ah nein nein, ich habe Schnupfen.“

Abermilliarden könnte die deutsche Volkswirtschaft über die Jahre sparen, wenn wir uns angewöhnen würden, bei Halskratzen, nasser Nase und leichtem Husten (also den Symptomen, bei denen man noch nicht zu Hause im Bett bleibt) in Gegenwart der Kolleginnen und Kollegen eine Maske zu tragen. Vom ersparten Leid für jeden und jede natürlich einmal ganz abgesehen. Drei, vier Tage Maske. Aus Rücksicht. Aber das Denken von uns Deutschen ist häufig das: „Wo ist das Gesetz? Aha, abgeschafft. Siehste.“

Und so schützt nicht der eine Superspreader die anderen, sondern die Anderen müssen sich dutzendfach vor dem Superspreader schützen. Ineffizient. Und mittlerweile sinnbildlich für unser Land. Wir könnten das besser. Aber dafür bräuchte es mehr Spaß am Gemeinsamen. Wer Respekt und Rücksicht zeigt, macht sich mitunter als „Weichei“ lächerlich.

von Max Biederbeck, Florian Kistler, Angelika Melcher, Max Haerder, Sonja Álvarez

Ich höre in jüngster Zeit immer mal wieder das Wort Stadtgesellschaft. „Die Leipziger Stadtgesellschaft hat diese Demonstration ins Leben gerufen“, „Die Stadtgesellschaft von Berlin diskutiert die Verkehrswende“ und so ähnlich. Das klingt nach lebendiger Gemeinschaft. Aber in Wirklichkeit ist es eine engagierte Minigruppe. Millionen beteiligen sich nicht. Weil sie nicht wollen oder können oder gar nichts davon mitbekommen haben. Es muss ja auch niemand mitmachen. Aber es zeigt: Stadtgesellschaft ist im Wesentlichen, wenn alle in ihrer kleinen Parzelle machen können, was sie wollen. Aber wie kann sich eine Gesellschaft entwickeln, wenn jedes gemeinschaftliche Ziel als Angriff auf die persönliche Freiheit gewertet wird?

Mir hat das vor gut zehn Jahren gedämmert: „Rauchverbot in der Gastronomie? Sollen doch die Nichtraucher zu Hause bleiben, wenn die von mir kein Krebs kriegen wollen.“

Gemeinschaft – oder sozialistische Freiheitsberaubung?

Wenn neue Radwege freigegeben werden, müssen die mitunter mit hüfthohen Pollern dicht an dicht beplankt werden, damit die, die sich darüber ärgern, nicht mehr vor ihrem Lieblingskiosk parken zu können, nicht absichtlich mit ihrer schwarzen E-Klasse den Radweg zustellen. Weil fünf Parkplätze, die am Tag dreißig Menschen glücklich gemacht haben, verschwunden sind, was nun tausende andere (auf dem Rad) glücklich macht.

Veränderung des bisher immer Gleichen zugunsten eines gemeinschaftlichen Ziels: das ist für viele eine Art sozialistische Freiheitsberaubung. Der Freiheitsgewinn der vielen vielen Anderen spielt keine Rolle. Weil Gemeinschaft vor allem in der Großstädten zu nichts verpflichtet. Schon gar nicht zu Rücksicht. „Lasst mich in Ruhe.“ Und falls jetzt jemand denkt: Aber der Gas-Spar-Appell von Habeck hat doch auch breit-flächig gefruchtet. Naja, das beste Argument war die Warnung vor der eigenen Heizkosten-Nachzahlung.

Jüngst habe ich in einem Supermarkt mitten in einer sehr langen Kassenschlange gestanden. Also habe ich meinen Korb abgestellt und bin vorgelaufen, um die Kassiererin zu bitten, eine weitere Kasse öffnen zu lassen. Die freundliche Frau hat denn auch sofort auf den Knopf gedrückt, worauf hin eine automatische Durchsage ertönt ist, Kasse 1 sei nun auch geöffnet. Und noch während ich zu meinem Korb zurücklief, spurteten die Leute, die hinter mir in der Schlange gestanden hatten, alle (alle!) an mir vorbei und vor an Kasse 1. Die von ganz hinten sind nun ganz vorn. In solchen Situationen entbrennt in mir ein Kampf der Gefühle. Und ich werde aufgewühlter Betrachter meiner selbst. Leider fehlt dabei das beschwingte Gefühl, gut unterhalten zu werden. In mir kommt Gesellschaftsfrust auf.

Es fehlt vielen Leuten irgendwie das Gespür für die Gemeinschaft. Oder? Extremer erahne ich es in den USA. Aber in einigen anderen freien westlichen Gesellschaften, etwa in Skandinavien, wo die Hälfte meiner Familie herkommt und lebt, herrscht weniger das Gefühl, vom Staat unterdrückt zu werden, wenn eine demokratisch legitimierte Person oder Gruppe als Repräsentanten alte Gewohnheiten durchschüttelt: So entstehen dort die modernen Innenstädte, erfolgreiche Schulen, digitalisierte Verwaltung, E-Lade-Infrastruktur und ein gesünderer Lebenswandel. Weil die Leute gerne mitziehen. Zusammen.

Warum sind Nationen erfolgreich – und wieso bleiben andere zurück? Der Ökonom Oded Galor hat die historischen Quellen von Wohlstand und Ungleichheit aufgespürt. Das Fazit: Diverse Gesellschaften sind stärker.
von Julian Heißler

Rücksichtslosigkeit nicht mit Freiheit verwechseln

Wollen wir das auch bei uns? Und wenn ja: Wie kriegen wir das hin?

Bei „Was nun…Herr Scholz?“ im ZDF hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen: Mit Zeitenwende habe er den russischen Angriffskrieg gemeint. Und hat den Begriff Zeitenwende damit ausdrücklich abgegrenzt von einer Art politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs.

Das fand ich so schade! Denn gerade in Krisen muss es doch gelingen und gelingt es bestimmt einfacher, eine große Gesellschaft, wie etwa Deutschland es ist, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zu machen, die sich den Aufbruch und den Wandel auf die Fahnen schreibt. Gemeinsam. Damit endlich Egoismus und Rücksichtslosigkeit nicht mehr mit Freiheit verwechselt wird. Es bleibt Egoismus und Rücksichtslosigkeit.

Wir als Teil der freien westlichen Welt haben doch die Aufgabe, aus uns selbst heraus den Aufbruch zu organisieren, den unterdrückerische Unrechtsregime je nach Gusto ihrem ängstlichen Volk aufdrücken. Das Gute bei uns ist: Der Staat sind wir alle. Weil wir im Großen und Ganzen keine Angst vor uns allen zu haben brauchen, können wir doch das Selbstbewusstsein aufbringen, gemeinsame Visionen zu verfolgen, ohne das Gefühl, grundlegend Freiheit einzubüßen. Weil die neuen Perspektiven neue Freiheiten versprechen.

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Es ist die Aufgabe der großen Politik, uns hier alle mitzureißen. Und ich persönlich erwarte von einem Bundeskanzler, dass er auch dies als Teil seines Jobs ansieht. Es muss auch mal klar gemacht werden: Das selbstzentrierte „Ist mir doch egal“ geht so nicht weiter.

Wir alle können von einander ein bisschen mehr Interesse erwarten. Das muss geweckt werden. Das ist die Aufgabe gekonnter politischer Kommunikation. Dann kommt die Rücksicht von allein.

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