Werner knallhart

Von Migranten lernen: Gebrochene Deutsch sehr effektiv

Wenn Einwanderer Deutsch sprechen, klingt es oft falsch. Verstehen kann man sie trotzdem. Wozu also noch die ganzen komplizierten Regeln? Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang mit unserer Sprache.

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Ein Mann lernt die deutsche Sprache Quelle: dpa

Mit der Tradition ist es immer so eine Sache. Denn nichts berührt einen weniger als die Tradition anderer. Ein Freund von mir kam an Ostern zum Frühstück vorbei und führte uns seine Ostertradition vor: hart gekochtes Ei mit Pfeffer, Salz, Senf, Essig und Öl. Alles im Eierbecher! Ich sagte: "Von mir aus. Aber wenn's geht, nicht über der weißen Tischdecke."

Und so ähnlich geht es auch Ausländern in Deutschland. Zwar lernen sie Deutsch, wenn sie sich nicht selber komplett ins gesellschaftliche Aus schießen wollen. Das tun viele aber nur so lange, bis sie sich im Alltag gut durchschlagen können. Für die Perfektion nach dem Regelwerk fehlt vielen oft die Begeisterung. Denn das Kulturgut deutsche Sprache ist für Nicht-Muttersprachler keine Tradition, sondern eine knallharte Strapaze.

Die deutsche Sprache leistet sich bis heute aus Tradition viele komplizierte Extras, auf die etwa die Weltsprache Englisch verzichtet. Der Feinschliff macht die Qualität des Deutschen aus. Man kann mit ihr Dinge in vielen Nuancen beschreiben und das nutzen wir mit unserem aktiven Wortschatz auch ordentlich aus, selbst wenn wir nicht Germanistik studiert haben.

Die meisten von uns können intuitiv unterscheiden, ob ein Baby plappert, brabbelt, murmelt, stammelt oder sabbelt, oder ob es weint, schreit, kreischt, schimpft, heult, quengelt, wimmert, jammert oder schluchzt. Das hat was.

Wörter, die falsch verwendet werden
LohnenswertDieses leider viel verwendete Wort gibt es eigentlich gar nicht. Denn was sollte schon des Lohnens wert sein? Unbegreiflicherweise verwenden dennoch immer mehr schreibende Menschen dieses Unwort anstelle von „lohnend“. Mittlerweile steht es sogar im Duden. Vergessen Sie diesen sinnlosen Wortbastard. Das wäre sehr lobenswert. Quelle: Fotolia
Public ViewingSehr viele Lehnwörter aus dem Englischen werden im Deutschen sinnentstellt gebraucht. "Public Viewing" bedeutet keineswegs, dass sich viele Menschen gleichzeitig auf einem Riesenbildschirm Fußballspiele ansehen. "Public Viewing" ist nämlich tatsächlich das  öffentliche Zurschaustellen eines zu Tode gekommenen Menschen, um seine Identität festzustellen. Quelle: dpa
Scheinbar/ AnscheinendDie beiden Adjektive werden laufend verwechselt, obwohl der Unterschied nicht kompliziert ist: „Scheinbar“ bezeichnet einen Sachverhalt, der wahr zu sein scheint, es aber nicht ist. Wenn dagegen alle möglichen Indizien für einen Sachverhalt sprechen, aber keine Beweise vorliegen, ist er "anscheinend" zutreffend. Quelle: Fotolia
BusenIm Alltagsgebrauch wird der Busen mit den Brüsten einer Frau gleichgesetzt. Tatsächlich ist er in seiner Ursprungsbedeutung nichts anderes als das Tal zwischen den Brüsten. Das Dekolleté, mit anderen Worten. Quelle: dpa
KultEin alter VW-Käfer gilt als Kult-Auto und "Vom Winde verweht" als Kult-Film. Mit dem, was das Wort Kult eigentlich bedeutet, haben beide aber nur im entferntesten Sinne etwas zu tun. Ein "Kultus" (lateinisch) ist die Religionsausübung mit festgelegten Handlungen. So weit sollte man die Verehrung von Autos oder Filmen dann wohl doch nicht treiben. Quelle: dpa
sorgen"Die Gewinnwarnung sorgt für einen Kurssturz." Sätze dieses Musters liest man immer wieder. Schönes, korrektes Deutsch ist es nicht. Angebracht wäre vielmehr das Verb "verursachen". Das Verb "sorgen" passt dagegen zu Müttern und ihren Kindern oder Lehrern und ihren Schülern. Quelle: dpa
Guerillakrieg und HIV-VirusViele fremdsprachig-deutschen Neuworte sind nichts weiter als ein Pleonasmus, das heißt beide Wortteile bezeichnen in zwei Sprachen dasselbe. "Guerilla" heißt auf Spanisch der "kleine Krieg". Die La-Ola-Welle ist ein weiteres Beispiel. Ein verwandtes Phänomen ist das "HIV-Virus" - das V steht schon für Virus - und die ABM-Maßnahme, also die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme-Maßnahme. Quelle: AP

Aber wir neigen auch zu Schnickschnack. Warum ist es wichtig, dass zwar die Erde und die Sonne weiblichen Geschlechts sind, der Mond aber nicht? Was ist sinnvoll daran, dass man der Krake und die Krake sagen kann, aber ausschließlich die Krabbe und nicht der Krabbe? Jeder versteht "Jesses! Der Auto fährt aber schnell."

Meine Mutter ist Schwedin. Sie lebt seit fast 45 Jahren in Deutschland. Und wenn es draußen nieselt, dann sagt sie: "Nimm Regenschirm mit." Das liegt daran, dass der bestimmte Artikel im Schwedischen bündig hinten an das Substantiv ran getackert wird. "Polisen" heißt "die Polizei". Und "der Regenschirm" heißt "paraplyet". Im Ohr einer Schwedin fehlt also überhaupt kein vor dem Substantiv freistehender Artikel, wenn man sagt "nimm Regenschirm mit." Früher habe ich immer geantwortet: "Den!" Heute denke ich es mir meist nur noch. Denn sie redet ja nicht nur falsch, sie redet ja auch effizient. Und kann Effizienz so falsch sein im Land der effizienten Prozesse?

Effizient sprechen. Das tun wir Deutschen in unserer eigenen Sprache auch. Oder wie oft verwenden Sie das Futur II? Und was ist das nochmal, ne? "Ich werde Hunger gehabt haben." Wie lästig. Da sagt man doch lieber: "Dann bin ich satt."

"Kaffee to go" ist kürzer als "Kaffee zum Mitnehmen" und sogar als "Kaffee auf die Hand" (was eh schmerzhaft wäre).

Ein Leitfaden, typisch deutsch zu werden
Adam Fletcher hat in Großbritannien und Neuseeland gelebt, ein Unternehmen in Leipzig gegründet und lebt und arbeitet jetzt in Berlin. Seine Erfahrungen in Deutschland haben ihn dazu veranlasst, einen Leitfaden zu schreiben, wie Ausländer typische Deutsche werden. So hart es sei, schreibt Fletcher, um ein typischer Deutscher zu werden, müsse man deutsch lernen. Die Worte an sich seien gar nicht einmal so schwer, gerade wegen der vielen Parallelen zum Englischen. Und letztlich mache es auch stolz "Schwangerschaftsverhütungsmittel" sagen zu können. Die Grammatik allerdings sei "impenetrable nonsense", aber es führe nun mal kein Weg an ihr vorbei. Quelle: AP
Wer typisch deutsch sein wolle, müsse auch deutsche Gerichte essen, so Fletcher. Er warnt allerdings auch davor, wie unkreativ die deutsche Küche sei. Wurst schmecke eher langweilig und ohne Fleisch gehe auf deutschen Tellern nichts. "Hier Vegetarier zu sein, ist wahrscheinlich genauso lustig, wie im Zoo nichts sehen zu können", schreibt er. Besonders verwirrend sei für Ausländer die Spargel-Saison, in der das ganze Land völlig durchdrehe und sich nahezu ausschließlich von Spargel ernähre. Daran müsse sich ein zukünftiger Musterdeutscher gewöhnen - und natürlich mitmachen. Quelle: dpa/dpaweb
Besonders wichtiger Bestandteil des Germanismus seien die drei P: Planning, Preparation, Process. Ein typischer Deutscher sei vorbereitet auf alles, was passieren könne und plane alles bis ins kleinste Detail: vom Tagesablauf bis zur Anordnung der Schuhe im Regal. To-do-Listen helfen dem Deutschen dabei nicht nur, es mache ihn auch glücklich, diese abzuhaken. Quelle: Fotolia
Besonders wichtig sei es, sich Versicherungen zuzulegen gegen all die Dinge, die man nicht planen kann: Versicherungen gegen Erdbeben, Beinbruch und Haarausfall, gegen Schäden durch den falschen Kraftstoff und so weiter. Fletcher ist sich sicher, würde jemand eine Versicherung erfinden, die immer dann greift, wenn man grade nicht die richtige Versicherung hat (insurance-insurance), würden 80 Millionen Deutsche vor lauter Glück tot umfallen. Quelle: dpa
Wissen ist Macht: In England bekommt der das hübsche Mädchen aus dem Club, der am meisten trinkt, ohne sich auf die Schuhe zu kotzen. "In Deutschland bekommt der das Mädchen, der am meisten über Philosophie weiß", schreibt Fletcher. Dementsprechend streben die Deutschen nach Fortbildungen, Qualifikationen und Titeln. Der Dr. vor dem Namen sei deutlich wichtiger als das, was die Person im Kopf habe, weshalb jeder sich möglichst viele Zusatzqualifikationen zulegen sollte. Doch Vorsicht: Wer den Bachelor of Arts in Theaterwissenschaften gemacht hat, bekäme ungefähr so viel Anerkennung wie jemand, der es geschafft hat, sich ordentlich anzuziehen. Quelle: Fotolia
Ganz wichtig seien vor allem Hausschuhe, schreibt Fletcher. "Sie sind Voraussetzung, um richtig deutsch zu sein." Die Begründung, warum Deutsche so auf ihre Puschen schwören, sei vor allem eines: praktisch. Was ebenfalls furchtbar deutsch sei. Quelle: dpa/dpaweb
In Deutschland finden die besten Partys in der Küche statt, bei den Briten ist es dagegen das Wohnzimmer. Fletcher nennt die Küche einen funktionalen Raum, in dem man Essen zubereitet. Wer allerdings ein richtiger Deutscher werden wolle, müsse die Küche unbedingt zum Mittelpunkt seiner Wohnung machen. Außerdem sei besonders am Wochenende ein ausgedehntes Frühstück Pflicht für einen typischen Deutschen. Dazu müsse der ganze Inhalt des Kühlschranks auf dem Küchentisch aufgefahren werden. Quelle: Blumenbüro Holland/dpa/gms

"Sale" ist kürzer als "Sommerschlussverkauf" oder "Rabattaktion". Wir lassen uns sogar auf Wörter ein, die englisch klingen, obwohl englische Muttersprachler sie ganz anders verwenden, wie "Handy" für "Mobiltelefon". ("Handy" heißt im Englischen kurz "Mobile" oder "Cell", "handy" heißt auf Deutsch "handlich" oder "geschickt".)

Dort, wo es nicht oder kaum effizienter ist, bleiben wir beim Deutschen. Drucker (statt Printer), Maus (statt Mouse), Drohne (statt Drone), Kombi (statt Station-Wagon). Aber eben Desktop (statt Benutzeroberfläche) und sorry (statt der viersilbigen Entschuldigung). Kritisch wird es beim Bildschirm. Da lockt der Screen.

Wenn wir Deutschen Spaß am Vereinfachen haben, dann können wir uns doch inspirieren lassen von denen, die es ohne Rücksicht auf kulturelle Verluste noch radikaler durchziehen. Sagt ein türkischstämmiger junger Mann in der Berliner U-Bahn am Handy "Isch bin grad Heinrich Heine. Und du?", dann hört man sofort: Nein, der große deutsche Dichter ist nicht von den Toten auferstanden. Der junge Mann steht vielmehr mit dem Zug der Linie U8 gerade in der Station "Heinrich-Heine-Straße".

Wozu mehr Worte verlieren? Der Zusammenhang macht es klar. Kein Wunder, dass man mittlerweile auch schon Muttersprachler so verkürzt formulieren hört. So entwickelt sich Sprache.

Schmeißt den Duden über Bord!

Warum also nicht zumindest einfach mehrere Varianten als akzeptabel anerkennen? Warum statt richtig und falsch nicht lieber die Kategorien klassisch und neu? Wozu Regeln dort, wo sie die Sprache ohne Vorteil komplizierter machen? Wir streben doch auch sonst nach Einfachheit.

Stellen Sie sich einen Geldautomaten vor, der auf dem Bildschirm meldet: "Den gewünschten Betrag erhalten Sie erst, wenn Sie zusätzlich noch die Bitte-Taste gedrückt haben." Mehr Stil hätte es. Aber es wäre ein weiterer Knopfdruck. Deshalb fangen wir mit diesem Quatsch erst gar nicht an. Aber was ist mit Folgendem:

Wenn du hast Lust, ich lade dich zum Essen ein. So falsch, so effizient. Denn für sich stehend würden die Sätze ja lauten:

Du hast Lust. Ich lade dich zum Essen ein.

Warum wirbeln die Verben durch die Verquickung plötzlich durcheinander?

Wenn du Lust hast, lade ich dich zum Essen ein.

Gabriel, einem Freund aus Kasachstan, will das trotz Sprachschule nicht in den Kopf.

Deutsch für Besserwisser
Ein Daumen schwebt am (03.09.2010) auf der Internationalen Funkausstellung IFA in Berlin über dem roten Knopf einer Fernbedienung. Quelle: dpa
Falsch: Gang und gebeRichtig: Gang und gäbe Bei vielen ist es leider gang und gäbe, selbige Redewendung falsch zu schreiben. Vom Wortursprung bezieht sich "gang und gäbe" auf Zahlungsmittel, die weit verbreitet und damit gültig waren. So ist in Europa beispielsweise der Euro gang und gäbe, der Keks zum Kaffee ist dagegen bloß üblich. Quelle: Screenshot
Ein letzter roter Apfel hängt am 09.12.2012 unter einer Mütze aus Schnee an einem Apfelbaum in Eichwalde (Brandenburg) am Rande von Berlin. Quelle: dpa
Falsch: Der Erfolg kam dank Mund-zu-Mund-PropagandaRichtig: Der Erfolg kam dank Mundpropaganda Da niemand anderen Menschen etwas in den Mund sagt, müsste es - wenn überhaupt - Mund-zu-Ohr-Propaganda heißen. Wer darauf setzt, dass sich etwas herumspricht, vertraut auf Mundpropaganda. Quelle: gms
A radioactive specialist measures the level of radioactive contamination in the soil in Kopachi village Quelle: AP
Die neunfache Eisschnelllauf-Weltmeisterin Monique Garbrecht-Enfeldt Quelle: dpa/dpaweb
broccoli pasta Quelle: dapd

"Wenn du hast Lust, ich lade dich zum Essen ein."

Ich sage: "Lade ich dich."

Er: "Nein, nein, ich lade dich. Du mich letzte Mal schon eingeladen."

So etwas sollte man sich nicht zweimal sagen lassen.

Seit dem Hin und Her mit der Rechtschreibreform der Neunzigerjahre hat etwa der Duden mit seinem Regelwerk deutlich an Autorität verloren. Blöd für den Duden. Aber was soll's? Selbst in deutschen Redaktionen heißt es mittlerweile schon mal:

"Steht aber so im Duden."

"Na und?"

Das, was einige Traditionalisten als Verwahrlosung der deutschen Sprache kritisieren, ist ein Prozess der Reduzierung auf das Wichtigste. Sprechen und Schreiben um verstanden zu werden. Und nicht, um zu zeigen, wie toll man das kann.

Machen wir uns nichts vor: Dort, wo die Menschen schon gar nicht mehr wissen, wie die offiziellen Regeln lauten, dort wo es keinen mehr gibt, der sagt: "du redest vielleicht einen Stuss", wo regelwidrig zu reden kein Makel mehr ist, dort wird sich das vereinfachte Deutsch unauslöschlich einbrennen. Deutsch wird schlichter, aber auch facettenreicher.

Die Briten ziehen heute auch nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Welt und maulen: "Das heißt nicht Tomäto, das heißt Tomato" und "nicht no woman, no cry, sondern No, woman, don't cry."

Die Briten haben verstanden: Ihre Sprache hat ein Eigenleben entwickelt. Die lässt sich nicht mehr einfangen.

Und wir Deutschen leben im weltweit beliebtesten Einwanderungsland nach den USA. Wir sollten keine Angst vor der neuen deutschen Sprache haben. Wer will, spricht sie klassisch und zeigt, dass er das Regelwerk beherrscht. So werde ich es auch tun.

Aber akzeptieren wir gelassen: Keiner hat das Urheberrecht inne. Deutsch ist ein Open-Source-Projekt. Jeder darf dran mitwurschteln. Und es werden neue schlaue Gepflogenheiten entstehen. Lassen wir Fünfe gerade sein und bedienen wir uns. Wir sind ja schließlich nicht Heinrich Heine.

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