Mit der Tradition ist es immer so eine Sache. Denn nichts berührt einen weniger als die Tradition anderer. Ein Freund von mir kam an Ostern zum Frühstück vorbei und führte uns seine Ostertradition vor: hart gekochtes Ei mit Pfeffer, Salz, Senf, Essig und Öl. Alles im Eierbecher! Ich sagte: "Von mir aus. Aber wenn's geht, nicht über der weißen Tischdecke."
Und so ähnlich geht es auch Ausländern in Deutschland. Zwar lernen sie Deutsch, wenn sie sich nicht selber komplett ins gesellschaftliche Aus schießen wollen. Das tun viele aber nur so lange, bis sie sich im Alltag gut durchschlagen können. Für die Perfektion nach dem Regelwerk fehlt vielen oft die Begeisterung. Denn das Kulturgut deutsche Sprache ist für Nicht-Muttersprachler keine Tradition, sondern eine knallharte Strapaze.
Die deutsche Sprache leistet sich bis heute aus Tradition viele komplizierte Extras, auf die etwa die Weltsprache Englisch verzichtet. Der Feinschliff macht die Qualität des Deutschen aus. Man kann mit ihr Dinge in vielen Nuancen beschreiben und das nutzen wir mit unserem aktiven Wortschatz auch ordentlich aus, selbst wenn wir nicht Germanistik studiert haben.
Die meisten von uns können intuitiv unterscheiden, ob ein Baby plappert, brabbelt, murmelt, stammelt oder sabbelt, oder ob es weint, schreit, kreischt, schimpft, heult, quengelt, wimmert, jammert oder schluchzt. Das hat was.
Aber wir neigen auch zu Schnickschnack. Warum ist es wichtig, dass zwar die Erde und die Sonne weiblichen Geschlechts sind, der Mond aber nicht? Was ist sinnvoll daran, dass man der Krake und die Krake sagen kann, aber ausschließlich die Krabbe und nicht der Krabbe? Jeder versteht "Jesses! Der Auto fährt aber schnell."
Meine Mutter ist Schwedin. Sie lebt seit fast 45 Jahren in Deutschland. Und wenn es draußen nieselt, dann sagt sie: "Nimm Regenschirm mit." Das liegt daran, dass der bestimmte Artikel im Schwedischen bündig hinten an das Substantiv ran getackert wird. "Polisen" heißt "die Polizei". Und "der Regenschirm" heißt "paraplyet". Im Ohr einer Schwedin fehlt also überhaupt kein vor dem Substantiv freistehender Artikel, wenn man sagt "nimm Regenschirm mit." Früher habe ich immer geantwortet: "Den!" Heute denke ich es mir meist nur noch. Denn sie redet ja nicht nur falsch, sie redet ja auch effizient. Und kann Effizienz so falsch sein im Land der effizienten Prozesse?
Effizient sprechen. Das tun wir Deutschen in unserer eigenen Sprache auch. Oder wie oft verwenden Sie das Futur II? Und was ist das nochmal, ne? "Ich werde Hunger gehabt haben." Wie lästig. Da sagt man doch lieber: "Dann bin ich satt."
"Kaffee to go" ist kürzer als "Kaffee zum Mitnehmen" und sogar als "Kaffee auf die Hand" (was eh schmerzhaft wäre).
"Sale" ist kürzer als "Sommerschlussverkauf" oder "Rabattaktion". Wir lassen uns sogar auf Wörter ein, die englisch klingen, obwohl englische Muttersprachler sie ganz anders verwenden, wie "Handy" für "Mobiltelefon". ("Handy" heißt im Englischen kurz "Mobile" oder "Cell", "handy" heißt auf Deutsch "handlich" oder "geschickt".)
Dort, wo es nicht oder kaum effizienter ist, bleiben wir beim Deutschen. Drucker (statt Printer), Maus (statt Mouse), Drohne (statt Drone), Kombi (statt Station-Wagon). Aber eben Desktop (statt Benutzeroberfläche) und sorry (statt der viersilbigen Entschuldigung). Kritisch wird es beim Bildschirm. Da lockt der Screen.
Wenn wir Deutschen Spaß am Vereinfachen haben, dann können wir uns doch inspirieren lassen von denen, die es ohne Rücksicht auf kulturelle Verluste noch radikaler durchziehen. Sagt ein türkischstämmiger junger Mann in der Berliner U-Bahn am Handy "Isch bin grad Heinrich Heine. Und du?", dann hört man sofort: Nein, der große deutsche Dichter ist nicht von den Toten auferstanden. Der junge Mann steht vielmehr mit dem Zug der Linie U8 gerade in der Station "Heinrich-Heine-Straße".
Wozu mehr Worte verlieren? Der Zusammenhang macht es klar. Kein Wunder, dass man mittlerweile auch schon Muttersprachler so verkürzt formulieren hört. So entwickelt sich Sprache.
Schmeißt den Duden über Bord!
Warum also nicht zumindest einfach mehrere Varianten als akzeptabel anerkennen? Warum statt richtig und falsch nicht lieber die Kategorien klassisch und neu? Wozu Regeln dort, wo sie die Sprache ohne Vorteil komplizierter machen? Wir streben doch auch sonst nach Einfachheit.
Stellen Sie sich einen Geldautomaten vor, der auf dem Bildschirm meldet: "Den gewünschten Betrag erhalten Sie erst, wenn Sie zusätzlich noch die Bitte-Taste gedrückt haben." Mehr Stil hätte es. Aber es wäre ein weiterer Knopfdruck. Deshalb fangen wir mit diesem Quatsch erst gar nicht an. Aber was ist mit Folgendem:
Wenn du hast Lust, ich lade dich zum Essen ein. So falsch, so effizient. Denn für sich stehend würden die Sätze ja lauten:
Du hast Lust. Ich lade dich zum Essen ein.
Warum wirbeln die Verben durch die Verquickung plötzlich durcheinander?
Wenn du Lust hast, lade ich dich zum Essen ein.
Gabriel, einem Freund aus Kasachstan, will das trotz Sprachschule nicht in den Kopf.
"Wenn du hast Lust, ich lade dich zum Essen ein."
Ich sage: "Lade ich dich."
Er: "Nein, nein, ich lade dich. Du mich letzte Mal schon eingeladen."
So etwas sollte man sich nicht zweimal sagen lassen.
Seit dem Hin und Her mit der Rechtschreibreform der Neunzigerjahre hat etwa der Duden mit seinem Regelwerk deutlich an Autorität verloren. Blöd für den Duden. Aber was soll's? Selbst in deutschen Redaktionen heißt es mittlerweile schon mal:
"Steht aber so im Duden."
"Na und?"
Das, was einige Traditionalisten als Verwahrlosung der deutschen Sprache kritisieren, ist ein Prozess der Reduzierung auf das Wichtigste. Sprechen und Schreiben um verstanden zu werden. Und nicht, um zu zeigen, wie toll man das kann.
Machen wir uns nichts vor: Dort, wo die Menschen schon gar nicht mehr wissen, wie die offiziellen Regeln lauten, dort wo es keinen mehr gibt, der sagt: "du redest vielleicht einen Stuss", wo regelwidrig zu reden kein Makel mehr ist, dort wird sich das vereinfachte Deutsch unauslöschlich einbrennen. Deutsch wird schlichter, aber auch facettenreicher.
Die Briten ziehen heute auch nicht mit dem erhobenen Zeigefinger durch die Welt und maulen: "Das heißt nicht Tomäto, das heißt Tomato" und "nicht no woman, no cry, sondern No, woman, don't cry."
Die Briten haben verstanden: Ihre Sprache hat ein Eigenleben entwickelt. Die lässt sich nicht mehr einfangen.
Und wir Deutschen leben im weltweit beliebtesten Einwanderungsland nach den USA. Wir sollten keine Angst vor der neuen deutschen Sprache haben. Wer will, spricht sie klassisch und zeigt, dass er das Regelwerk beherrscht. So werde ich es auch tun.
Aber akzeptieren wir gelassen: Keiner hat das Urheberrecht inne. Deutsch ist ein Open-Source-Projekt. Jeder darf dran mitwurschteln. Und es werden neue schlaue Gepflogenheiten entstehen. Lassen wir Fünfe gerade sein und bedienen wir uns. Wir sind ja schließlich nicht Heinrich Heine.