Werner knallhart
Quelle: dpa

Warn-SMS für alle: Werden Menschenleben bald wichtiger als Datenschutz?

Die Unwetterwarnungen haben viele Menschen nicht erreicht, weil die Info-Kette gerissen ist. Grund dafür ist auch unser Desinteresse an Digitalem. Die Handys durften nicht warnen. Wird Datenschutz so zum Vorwand für Rückständigkeit?

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Normalerweise sind wir in Deutschland digital hinterher, weil an entscheidenden Stellen nicht rechtzeitig kapiert wurde, worauf es ankommt in Zukunft. Aber in Sachen Katastrophenschutz sind wir hinterher, weil der Fortschritt bei uns verboten ist. Massen-SMS dürfen in Deutschland nur an jene verschickt werden, die dem vorher ausdrücklich zugestimmt haben. Es gibt eine Ausnahme: Corona.

Wer sich aus dem Ausland kommend nach mindestens 24 Stunden dort mit seinem Handy ins deutsche Mobilfunknetz einloggt, erhält eine automatisierte Warn-SMS:
Die Bundesregierung: Willkommen/Welcome! Bitte beachten Sie die Test-/Quarantäneregeln; please follow the rules on tests/quarantine: (dann folgt ein Link zu weiteren Infos).

Dass Ausländer nicht wissen, was „Bundesregierung“ ist und dass das Wort „Corona“ nicht einmal vorkommt, sei dahingestellt. Möglich macht eine solche SMS zumindest §36 des Infektionsschutzgesetzes mit §12 der Coronavirus-Einreiseverordnung. Mein Sitznachbar im Flugzeug bekam direkt nach dem Aufsetzen besagte SMS. Seine Reaktion: „Woher kennt die Bundesregierung denn meine Telefonnummer?“

von Thomas Kuhn, Harald Schumacher, Tobias Gürtler

Die Frage ist verständlich. Denn normalerweise bekommt man nur SMS von Absendern, denen man seine Nummer vorher gegeben hat. Kein Wunder, dass uns praktisch nur unsere Mobilfunk-Anbieter SMS schicken. Denn das ist mit uns vertraglich vereinbart. Und ja: Die kennen auch unsere Nummer.

Aber diese rumpelige SMS und die Reaktionen darauf zeigen schon die Unbeholfenheit, mit der Absender und viele Empfänger mit dieser technischen Möglichkeit der schnellen automatisierten Info an alle aus einer bestimmten Gruppe umgehen. Wir sind es nicht gewohnt.

Menschen in anderen Ländern kennen sowas längst. Deutschland ist hier hingegen so lahm, dass die EU jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Denn uns fehlt hier die Möglichkeit zum sogenannten Cell-Broadcast. Weil dies in Deutschland nicht politisch gewünscht ist, wurde auch die teure Technik dafür nie installiert.

Die „Bild“-Zeitung hat einen alten Tweet des Bundesamtes für Katastrophenschutz (BKK) von vor zwei Jahren rausgekramt. Das BKK schreibt da: „Cell Broadcast ist aus rechtlichen und technischen Gründen nicht möglich. Der Versand per SMS birgt zudem die Gefahr, dass es zu einer Netzüberlastung kommt und die Nachricht die Adressaten nicht oder mit erheblicher Verspätung erreicht.“

Mit anderen Worten: Wir haben die Technik nicht ordentlich aufgebaut, deshalb funktioniert das nicht zuverlässig, also lassen wir es lieber ganz. Deutschland im 21. Jahrhundert. Moderne Technik und ihre Gefahren.

Unsere Haltung „Ging doch bislang auch ohne“ ist zwar billiger (das BKK spricht von 30 bis 40 Millionen Euro für den Aufbau von Cell-Broadcast), hat jetzt in den Fluten aber womöglich Menschenleben gekostet. Dass es gefährlich ist, in den volllaufenden Keller zu steigen, geht aus dem Heulen einer Sirene nicht hervor. Aus dem lange davor peinlich verpfuschten „Warntag“ vergangenes Jahr wurden bislang keine für uns alle spürbaren praktischen Konsequenzen gezogen, was die Erreichbarkeit der Bürger angeht.

von Tobias Gürtler, Leonie Tabea Natzel

Ach, es ist mal wieder so ein fauler Kompromiss aus Bequemlichkeit („Ich hab bislang im Leben keine Warn-SMS gebraucht“), Fortschrittsfeindlichkeit („Es hat nicht jeder ein Handy, also muss es über Sirenen gehen“), Datenschutzpanik (Stichwort Staats-SMS) und dem lästigen Gefühl, irgendwas machen zu müssen („Gibt´s da nicht ´ne App?“).

Die Warn-SMS würde im Idealfall zwar jeden und jede im ausgemachten Katastrophengebiet erreichen, aber dafür bräuchten wir mehr Technik und mehr Vertrauen in den Umgang mit unseren Daten. Ohne anzuecken geht es mit einer App wie Katwarn, Nina oder Warnwetter. Aber Apps muss man

1. installieren
2. konfigurieren (Darf die App mich orten? Welche Regionen interessieren mich? Darf die App mir Push-Nachrichten schicken?)
3. beim Kauf eines neuen Handys gegebenenfalls aus der Cloud laden
4. mit dem Internet verbinden. Und das kann gerade in Deutschland überlastet sein, wenn alle sich im Notfall auf Infos stürzen.

Diese Apps erreichen heute letztendlich nur einen kleinen Teil – offenbar nur rund zehn Prozent – der Bürger.

Die Warn-SMS hingegen funktioniert mit Einlegen der Sim-Karte. Fertig. Jeder, der ein Handy hat und sich in der betroffenen Handynetz-Funkzelle befindet, bekommt sie. Aber bislang ist es den Mobilfunknetzbetreibern überlassen, was sie aus Cell-Broadcast machen. Weil es sich kommerziell wegen der erforderlichen Einwilligung zum Empfang und der eingeschränkten Darstellungsformen (Grafiken gehen nicht, letztendlich können nur ein paar Buchstaben, Zahlen und Internet-Links versendet werden) offenbar nicht gelohnt hat, dümpelt das System in Deutschland vor sich hin. Je nach Anbieter ist es gar nicht einsatzfähig.

Aber wir wissen ja längst, wie sich Deutschland digital entwickelt, wenn man es den Konzernen überlässt, über unser Wohl und Wehe zu entscheiden. Man muss sie zu unserem Wohl zur Arbeit verdonnern.

Und das muss jetzt auch mit der Warn-SMS passieren. Verdonnern wir sie! Zwingen wir T-Mobile, Vodafone und Telefonica, sich am Katastrophenschutz zu beteiligen. 30 bis 40 Millionen Euro ist dafür doch nichts. Zwingen wir auch die Menschen zu ihrem Glück, die dann SMS empfangen, die dann wiederum ihr Leben retten können, selbst wenn sie gar nicht wussten, dass sie solche Warn-SMS empfangen können. Der Luxus für uns Nutzer ist, dass wir uns um die Warn-SMS vorab nicht kümmern müssen.

Lasst dann die meckern, die sich darüber empören, wenn sie eine Warn-SMS bekommen, obwohl sie doch gar kein Haus in der Eifel oder an der Wupper haben, sondern nur auf der Autobahn auf Durchreise durch die Funkzelle sind. So wie sich einige von denen schon heute aufregen, die in Nähe zur Bundesgrenze wohnen und eine Corona-SMS bekommen haben, obwohl sie die ganze Zeit zu Hause waren (offenbar mit für mindestens 24 Stunden im ausländischen Netz eingewähltem Handy) und was die Spam-Frechheit von Staats wegen denn bitte schön solle.

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Geben wir nicht der Datenschutz-Sucht die Schuld wie indirekt der Bundesminister für digitale Infrastruktur Andreas Scheuer (CSU), der nun ins Volk ruft: „Diese Flutkatastrophe muss ja allen ein Weckruf sein, dass wir jetzt nicht nur die Datenschutz-Diskussion führen, sondern die wirkliche Schutz-Diskussion für die Bürger vor Katastrophen.“

Ja, Katastrophenschutz ist Ländersache, aber die digitale Infrastruktur nicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es vor der Flutkatastrophe einen Aufschrei gegeben hätte, wenn die Bundesregierung gesagt hätte: Wir setzen EU-Recht um und wollen mit einem schlagkräftigen System gemeinsam mit den Bundesländern Menschen vor Regen, Schnee, Sturm, Kälte, Feuer, den Folgen von Terroranschlägen und gefährlichen Stoffen in der Atemluft warnen.

Und wir alle sollten zumindest mehrheitlich lernen, nicht immer abzuwarten, bis uns die Antwort auf die Frage um die Ohren fliegt: Wozu braucht man das? Mit ein bisschen Fantasie kann man sich das meist auch vorher denken.


Mehr zum Thema: Marcus Werner schreibt über die alltäglichen Nebensächlichkeiten in der Wirtschaft, die es wert sind, liebevoll aufgeblasen zu werden. Hier finden Sie seine Kolumnen-Übersicht.

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