Auf dem anstehenden Parteitag der Grünen dürfte die Flüchtlingsfrage ein wichtiges Thema werden. Muss Ihre Partei programmatisch umdenken?
Mit Unterstützung aus den grün mitregierten Ländern wurde der Asylkompromiss im Bundesrat zur Mehrheit verholfen. Meine Partei regiert mittlerweile in neun Ländern. Wir stehen für eine realistische und pragmatische Politik, verlieren aber die humanitären Anforderungen nicht aus den Augen. Aber Sie haben Recht, wir müssen uns in der momentanen Krise von einigen lieb gewonnenen Positionen verabschieden, um die Herausforderung der Flüchtlingsintegration zu meistern. Wir können zum Beispiel nicht in dem Maße wie bisher gegen den Flächenfraß kämpfen, denn wir brauchen viele neue Wohnungen, da führt kein Weg dran vorbei.
Wer soll die bauen und bezahlen?
Das schafft der Staat nicht allein, das geht nur über privates Kapital. Um private Investitionen anzukurbeln, brauchen wir Steuererleichterungen, etwa verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten. Gleichzeitig müssen wir das Bau- und Planungsrecht durchforsten, damit schneller gebaut werden kann.
Die Grünen fordern gleiche Sozialleistungen für Flüchtlinge wie für Hartz-IV-Empfänger. Ist das noch bezahlbar?
Tut mir leid, es war das Bundesverfassungsgericht, das 2012 entschieden hat, dass geringere Leistungen für Asylbewerber menschenunwürdig seien. Wir müssen vielmehr schauen, dass, wenn die Menschen als Flüchtling anerkannt sind, sie schnellstmöglich integriert werden und in Lohn und Brot kommen. Dann haben alle was davon. Die Unternehmen bekommen ihre Fachkräfte, die Flüchtlinge können ihren Lebensunterhalt verdienen und zahlen Sozialabgaben und Steuern.
Sollte man Flüchtlinge gezielt in Regionen ansiedeln, die unter dem demografischen Wandel leiden? Im Schwarzwald etwa stehen vielerorts Wohnungen leer, und es fehlen Arbeitskräfte…
Mein Ministerpräsidentenkollege Bodo Ramelow aus Thüringen argumentiert, man könne Flüchtlingen in schrumpfenden Regionen einen leichteren Einstieg verschaffen. Das nötigt mir Respekt ab. Diese Idee sollte man nicht sofort wegbügeln. Und wir dürfen Flüchtlinge nicht nur als Belastung sehen. In einer Unterkunft hat ein Flüchtling zu mir gesagt: Wir sind euch dankbar. Wir wollen euch das durch harte Arbeit zurückgeben.
Dazu sind Arbeitgeber nötig, die Flüchtlinge einstellen. Sollte für Asylbewerber der gesetzliche Mindestlohn gesenkt werden, um ihre Jobchancen zu vergrößern?
Nein. Der Sinn des Mindestlohns ist ja gerade zu verhindern, dass große Gruppen als Lohndrücker auftreten können. Ich halte es allerdings auch nicht für ratsam, den Mindestlohn in absehbarer Zeit zu erhöhen.
Könnten verkürzte Ausbildungen beim Einstieg ins Arbeitsleben helfen?
Darüber sollten wir reden. Die Gastronomie bei uns hofft ja geradezu auf Erlösung durch die Flüchtlinge, die haben enorme Personalprobleme. Gut gehende Wirtshäuser schließen, weil sie kein Personal finden. Wir haben 85 Mangelberufe in Deutschland – und bei weitem nicht alle sind für Hochqualifizierte reserviert.
Es gibt aber auch Akademiker unter den Asylbewerbern. Die wollen vielleicht nicht alle als Kellner in der Kneipe arbeiten.
Richtig. Für syrische Ärzte könnte man zum Beispiel die Approbationsordnung aufheben und sie als Assistenzärzte beschäftigen. Die volle Zulassung gibt es dann erst, wenn sie Deutsch können. Wer könnte beispielsweise die syrischen Flüchtlinge besser medizinisch behandeln als sie?





Jenseits der praktischen Herausforderungen – vielen Flüchtlingen ist unsere Gesellschaft, sind unsere Werte und Regeln fremd. Wie sollen wir damit umgehen?
Wir sind eine liberale Gesellschaft und werden daran nichts ändern. Integration geht nur auf der Basis unserer Verfassungsordnung. Da gibt es bei der Integration keine Rabatte – nicht bei der Religionsfreiheit, nicht beim Verhältnis zur Gewalt oder bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das Land Baden-Württemberg wird in Kürze ein entsprechendes Regelwerk vorlegen und an die Flüchtlinge verteilen. Wir erwarten Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbereitschaft und Integrationswillen, Dinge, denen ich bei meinen Besuchen in Flüchtlingsunterkünften oft begegne. Und notfalls müssen wir Fehlverhalten sanktionieren, die Gesetze gelten ja für uns alle gleichermaßen.
Kommen wir zur Landespolitik: Spüren Sie nach vier Jahren Amtszeit eigentlich noch Ressentiments in der Wirtschaft gegen den grünen Regierungschef?
Nur noch vereinzelt. Insgesamt hat sich das Verhältnis entkrampft. Betriebsbesuche gehören für mich zu den angenehmeren Teilen des politischen Lebens. Ich bewundere die vielen innovativen Mittelständler, die sich jeden Tag nach der Decke strecken, um im globalen Wettbewerb zu bestehen.