Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl „Dann sind die Schulden nicht mehr tragfähig“

Es ist nichts Außergewöhnliches, dass sich Regierungen in Kriegs- und Krisenzeiten verschulden, sagt Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl. Quelle: dpa

Der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl über die Entschuldung von Staaten in der Wirtschaftsgeschichte und die Gefahr einer Schuldenfalle für die Industrieländer durch die Coronapandemie.

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Albrecht Ritschl ist Wirtschaftshistoriker und lehrt seit 2007 an der London School of Economics. Promoviert wurde Ritschl an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

WirtschaftsWoche: Professor Ritschl, die Coronakrise treibt die Staatsverschuldung weltweit in die Höhe. In den nächsten Jahren werden die Regierungen alle Hände voll damit zu tun haben, die Schulden wieder abzubauen. Was lässt sich aus der Wirtschaftsgeschichte für die aktuelle Situation lernen?
Albrecht Ritschl: Zunächst einmal ist es nichts Außergewöhnliches, dass sich Regierungen in Kriegs- und Krisenzeiten verschulden. Entweder nehmen sie Kredite im Ausland oder bei der eigenen Bevölkerung auf. In der Vergangenheit war es allerdings so, dass es die Regierungen nach Überwindung der Notlagen mit der versprochenen Rückzahlung nicht immer so genau nahmen. Sie versuchten, die Schulden auf anderem Weg loszuwerden. Zu den Methoden, die seit der frühen Neuzeit bei inländischer Verschuldung immer wieder angewendet wurden, zählen die Entwertung der eigenen Währung, etwa durch Münzverschlechterung, Geldmengen-Inflation oder Währungsreform. Es gab auch Versuche, aus den Schulden heraus zu wachsen.

Eine wachsende Wirtschaft sollte die Einnahmen für den Staatshaushalt erhöhen und die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung reduzieren?
Ja, diese Strategie war zuweilen erfolgreich. Nehmen Sie England an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die Napoleonischen Kriege hatten die Staatsschulden Englands auf etwa das Dreifache der Jahreswirtschaftsleistung in die Höhe getrieben. Der Goldstandard sorgte damals für ein stabiles monetäres Umfeld, sodass die Briten ihre Schuldenquote im Verlaufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlich verringern konnten. 1913 lagen diese nur noch bei 30 Prozent der Wirtschaftsleistung, einem Zehntel des Niveaus zur Zeit der Napoleonischen Kriege.

Die Briten haben also fleißig getilgt?
Die Briten haben die Staatsschulden bei Fälligkeit mit neuen Schulden zurückgezahlt. Der Schuldenstand blieb dadurch unverändert. Weil die Wirtschaft jedoch über all die Jahre wuchs, sank der Anteil der Staatsschulden am Bruttoinlandsprodukt. Die Staatsschulden schrumpften nicht in absoluter Rechnung, sondern verloren im Vergleich zur wirtschaftlichen Leistungskraft Englands an Bedeutung. Einen ähnlichen Effekt hat es in Deutschland nach der Finanzkrise 2008 gegeben. Das vergleichsweise hohe Wirtschaftswachstum in Deutschland hat die relative Bedeutung der Staatsschulden verringert.

Dann ist also Wirtschaftswachstum der Königsweg zum Abbau von Staatsschulden?
Es ist zumindest eine Entschuldung, bei der die Gläubiger nichts verlieren. Aber es ist ein Wechsel auf die Zukunft. Wenn die Wirtschaft nicht wächst wie erhofft, werden die Schulden zu einem echten Problem. So wie in Italien. Das Land hat es nach der Finanzkrise wegen seiner stagnierenden Wirtschaft nicht geschafft, aus seinen Schulden herauszuwachsen.

Wird es den großen Weltregionen Asien, USA und Europa in den nächsten Jahren gelingen, die Schuldenlast durch Wachstum erträglich zu gestalten?
Das Problem für die Industrieländer ist, dass sich die Rahmenbedingungen für das Wachstum verschlechtern. Zum einen wächst die Zahl der Erwerbspersonen kaum noch oder geht gar zurück. Zum anderen hat sich das Produktivitätswachstum fast überall abgeschwächt, und das trotz der Digitalisierung. Die Demografie und die Produktivitätsschwäche bremsen die Wachstumsaussichten. Die Länder könnten daher in eine Schuldenfalle geraten. Allerdings befinden wir uns seit geraumer Zeit einem Umfeld sehr niedriger, zum Teil sogar negativer Zinsen. Ein Ende der Niedrigzinsphase ist nicht absehbar. Der deutsche Staat erhält Geld von den Gläubigern, wenn er sich bei ihnen Kredite besorgt. Das erleichtert es dem Staat, hohe Schulden zu stemmen.

Und wenn die Zinsen steigen?
Dann sind die Schulden in vielen Ländern nicht mehr tragfähig.

Was passiert dann?
Entweder die Länder konsolidieren ihre Staatshaushalte, es kommt zu Inflation oder die Gläubiger verzichten auf einen Teil ihrer Forderungen.

In der Eurokrise wurden die Gläubiger Griechenlands rasiert. Die Laufzeiten der griechischen Schulden wurden verlängert, die Zinsen gesenkt. Ist das ein Muster, das wir in den nächsten Jahren auch bei anderen hoch verschuldeten Ländern wie Italien sehen werden?
Die Verschuldung der Euroländer ist ein spezieller Fall. Die Staaten sind zu einem großen Teil bei der eigenen Bevölkerung und den inländischen Banken sowie ihren nationalen Zentralbanken verschuldet. Allerdings in einer Währung, die sie nicht selbst drucken und damit entwerten können. Prinzipiell wären die Regierungen dieser Länder zwar in der Lage, sich ihrer Schulden dadurch zu entledigen, dass sie ihre eigene Bevölkerung höher besteuern. Doch das ist höchst unpopulär. Deshalb steht die EZB unter Druck, die Zinsen niedrig zu halten, um Schuldenschnitte zu verhindern. Verschärft wird die Lage dadurch, dass die Schuldenexzesse aus den Jahren vor der Finanzkrise in vielen Ländern noch längst nicht abgearbeitet sind. Jetzt kommen die neuen Schulden durch die Coronakrise oben drauf. Welchen Weg die Staaten beim Schuldenabbau in den nächsten Jahren wählen werden, ist daher völlig offen.

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