Wohnungsnot „Vergesellschaftung ist kein Blankoscheck für die Politik“

In Berlin fordert eine Bürgerinitiative die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne. Im Grundgesetz wird Vergesellschaftung durch einen Paragrafen geregelt, der noch nie eingesetzt wurde. Quelle: dpa

Zehntausende demonstrierten in Berlin gegen hohe Mieten und Wohnungsnot. Eine Bürgerinitiative fordert Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne. Anwalt Benjamin Schirmer erklärt, warum diese Norm schwer anzuwenden ist.

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Herr Schirmer, seit Jahren versucht die Politik mit immer neuen Maßnahmen, den Wohnungsmangel in Deutschland zu beheben. Besonders kontrovers sind die Vorschläge aus Berlin: Der Senat will Mietpreise deckeln. Eine Initiative fordert, große Wohnungsbaukonzerne zu enteignen. Abgesehen davon, ob es irgendetwas brächte – ginge das überhaupt?
Die Initiative spricht zwar in ihrem Namen von Enteignen, wenn man in den Beschlusstext schaut, geht es aber eigentlich um eine Vergesellschaftung. Die ist in Artikel 15 des Grundgesetzes festgeschrieben. Dort heißt es, dass Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel – gegen Entschädigung – in Gemeineigentum überführt werden können. Nur: Man weiß heute nicht so richtig, wofür dieser Artikel eigentlich vorgesehen ist.

Wie kann das sein?
Das Grundgesetz lässt offen, was genau unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zweck vergesellschaftet werden könnte. Würden Immobilien darunterfallen? Schwer zu sagen. Und: Artikel 15 ist noch nie angewendet worden.

Warum gibt es ihn denn dann?
Zu Beginn der Bundesrepublik wusste man eben nicht genau, in welche Richtung die Wirtschaftsordnung sich entwickeln würde. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten dem Staat einen möglichen stärkeren Einfluss sichern. Da man den Artikel aber nie angewendet hat, gibt es auch keine Rechtsprechung dazu – und nur theoretisch-akademische Literatur.

Es gibt also auch keine Einschränkung. Was Politiker ja gerade dazu verleiten könnte, ihn erstmals anzuwenden…
…nein, der Artikel ist kein Blankoscheck für die Politik, und vor allem nicht dazu da, vermeintliche Fehler rückgängig zu machen – also zum Beispiel die Privatisierung von Wohnungen – oder wohnungspolitische Vorstellungen durchzusetzen. Gelten würde außerdem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Wie könnte der im Bezug auf Konzerne wie Deutsche Wohnen wirken, gegen die sich die Berliner Initiative ausdrücklich richtet?
Nehmen wir an, das Ziel wäre, die Mieten zu senken. Den Wohnungskonzernen, die diese Initiative in Berlin vergesellschaften will, gehören rund 240.000 Wohnungen. Das sind etwa 15 Prozent des Mietmarktes. Dann muss man sich die Frage stellen, ob das Ziel so überhaupt erreichbar wäre. Man müsste nachweisen, dass diese 15 Prozent auf den Rest des Marktes ausstrahlen – wie sollte das gelingen?

Eigentum verpflichtet, argumentieren manche, die die Initiative unterstützen. Haben sie nicht Recht?
Doch, aber sie verwechseln da etwas. Dieser Satz fällt in Artikel 14 des Grundgesetzes. Und Artikel 14, Absatz 3 beschreibt etwas völlig anderes als Artikel 15, nämlich Enteignungen. Diesen Artikel wendet der Staat auch regelmäßig an, wenn es beispielsweise um den Bau von Straßen oder Schienen geht. Maßstab ist das Allgemeinwohl – diese Norm fehlt aber bei der Vergesellschaftung.

Viel Wirbel, wenig Wirkung




Und wann ist das Wohl der Allgemeinheit wichtiger als das Eigentum des Einzelnen?
Das ist auch eine politische Frage. Es gibt da keine feste Grenze, beispielsweise ein zahlenmäßiges Verhältnis, das erreicht werden müsste. Die A 20 durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist sicher nicht die meistausgelastete Autobahn. Aber der Staat will mit ihr Strukturpolitik betreiben. Und wenn man sich für eine Verkehrsverbindung von A nach B entscheidet, gehören dem Staat im Regelfall nicht alle Grundstücke, die er dafür ganz konkret benötigt – im wahrsten Sinne des Wortes im Weg liegt zum Beispiel oft auch das Eigentum eines Landwirts.

Und der muss die Enteignung dann eben hinnehmen?
Ein Planungsverfahren für eine Bahntrasse oder eine Autobahn ist sehr komplex und aufwändig, auch weil die Öffentlichkeit umfassend beteiligt wird. Neben Naturschutz spielt privates Eigentum natürlich auch eine Rolle für den Verlauf, den man plant. Man kann davon ausgehen, dass der Staat es sich nicht leicht macht und beispielsweise keine Wohngebäude abreißen will – auch wenn das rechtlich möglich ist und in Einzelfällen wie für den Weiterbau der A 100 am Treptower Park in Berlin auch vorkommt. Aber das sind Ausnahmen. Am häufigsten geht es um landwirtschaftliche Flächen. Irgendwo muss eine Straße oder muss ein Strommast nun einmal hin.

Trotzdem werden die meisten Menschen sagen: Irgendwo, aber bitte nicht hier. Viele klagen, zum Beispiel auch in Bayern, gegen Hochwasserrückhaltebecken.
Das ist wohl so, aber wie Sie gesagt haben: Das Eigentum verpflichtet, und für das Allgemeinwohl darf eben auch enteignet werden. In der Realität wird das trotzdem nur in ganz wenigen Fällen gemacht: Meistens einigen sich der Staat und die Eigentümer zuvor. In einem frühen Stadium bieten die Vorhabenträger vielleicht auch etwas mehr Geld, weil sie ein Projekt schnell voranbringen wollen, zum Beispiel den Netzausbau. Kommt es aber doch zur Enteignung, erhalten Eigentümer dann nicht mehr als den Verkehrswert ihres Grundstücks.

Sagen Sie als Anwalt etwa: Klagen bringt nichts?
Eine Klage kann Erfolg haben, wenn die Behörde Fehler gemacht hat. Wenn es vielleicht doch einen seltenen Käfer gibt, der auf dem Grundstück vorkommt. Aber, ehrlich gesagt, kommt es immer seltener vor, dass Behörden sich vertun. Eine Klage kann aber vielleicht wenigstens zu einem für den Kläger positiven Vergleich führen.

Benjamin Schirmer ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei CMS Hasche Sigle und berät vor allem zu Umwelt- und Planungsrecht sowie Baurecht.

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