Wolfgang Streeck "In jedem Einwanderungsland entstehen Enklaven"

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Der demokratische Staat muss verteidigt werden - samt seiner Grenzen

Zur linken politischen Tradition, in der auch Sie stehen, gehört die Verbindung von Solidarität und Internationalismus. Heute ist daraus der Sozialstaat einerseits und andererseits das Ideal der offenen Grenzen geworden. Jetzt wird klar, dass das nicht recht zusammenpasst. Wie kommt die Linke aus diesem Dilemma heraus?  

Es gibt immer wieder historische Situationen, in denen alte Begriffe neu sortiert werden müssen. Politik ist die Einrichtung, Durchsetzung und Verteidigung einer gerechten sozialen Ordnung. Was als gerecht gelten und akzeptiert werden kann, ändert sich laufend und  muss immer wieder neu ausgefochten werden. Dafür gibt es Demokratie. Klar ist für mich, dass eine in diesem Sinne gerechte Ordnung nicht einen völlig freien Markt bedeuten kann, auch nicht für Zuwanderung. Märkte und soziale Verhältnisse insgesamt müssen reguliert werden – gerecht reguliert. Das einzige Instrument, das wir bisher gefunden haben, um eine moderne gerechte Ordnung einzurichten und zu verteidigen, ist der demokratische Staat, dessen Regierungs- und Regulierungsfähigkeit deshalb unter allen Umständen verteidigt werden muss.  

Auch gegen die Sentimentalität derer, die glauben, dass Politik darin besteht, jeden unbesehen aufzunehmen, der an unsere Tür klopft. Staaten ohne Grenzen sind keine Staaten mehr, weil sie unregierbar sind. In einem säkularen demokratischen Staat kann auch ein radikales Christentum Platz finden und für seine Prinzipien eintreten. Es kann innerhalb der für alle geltenden gerechten Ordnung nach seiner Façon selig werden – aber es darf sich mit dieser Ordnung nicht verwechseln.

Und der Internationalismus?

Die Sozialisten des 19. Jahrhunderts kämpften für eine internationale Arbeiterbewegung. Deren Ziel war, diejenigen Klassen – die feudalen Eliten und die Kapitalisten – zu bekämpfen, die sich die Staatsmacht angeeignet hatten. Ziel war, die staatliche Ordnung in den Dienst der großen Mehrheit der moderne Gesellschaft zu stellen und den national organisierten, sich untereinander bekämpfenden herrschenden Klassen eine internationale Friedensbewegung entgegenzustellen. Heute sehen wir, dass der Internationalismus des großen Kapitals längst den Internationalismus der kleinen Leute hinter sich gelassen hat.

Das liegt daran, dass Geld universell ein- und umwechselbar ist, Menschen aber nicht: sie sind immer durch ihre lokale Identität und Tradition geprägt. Heute muss die demokratische Regierungsform, die nur territorial gebunden möglich ist, gegen einen demokratisch unregierbaren Finanzinternationalismus verteidigt werden. Dabei geht es um eine gerechte Ordnung nicht nur innerhalb der Staaten, sondern auch zwischen ihnen. Die Wirtsnation des Finanzinternationalismus ist die absteigende Hegemonialmacht USA. Sie betreibt die Aufhebung aller Grenzen außer ihrer eigenen; das ist, was heute global governance genannt wird.

Die USA sehen die Welt als entgrenzte Verlängerung der eigenen Innenpolitik und ihrer Volkswirtschaft. Derzeit ist das demokratische Staatensystem das einzige Instrument, mit dem man dem internationalisierten Markt vielleicht noch irgendwelche Fesseln anlegen kann. Zu den Staaten, die es zu verteidigen gilt, mitsamt dem, was heute vernünftigerweise als Souveränität gelten könnte, gehören auch deren Grenzen. Wie gesagt: es gibt keinen Staat ohne Grenzen.

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