
WirtschaftsWoche: Herr Streeck, bei unserem letzten Interview sprachen wir über die Schuldenkrise und das bevorstehende Ende des Kapitalismus als soziale Ordnung. Das war vor der so genannten Flüchtlingskrise. Gibt es da einen ursächlichen Zusammenhang?
Wolfgang Streeck: Nicht unmittelbar. Aber der allgemeine Zusammenhang ist die Erschöpfung des kapitalistischen Wachstumsmodells mitsamt den dadurch ausgelösten globalen Verwerfungen. In Deutschland zeigt sich diese Erschöpfung noch nicht, aber im gesamten Mittelmeerraum, den Vereinigten Staaten und dem Krisenbogen von Westafrika über die arabischen Länder bis nach Pakistan, Teile von Indien, in anderer Form auch Japan. Daran ändern auch die verzweifelten Bemühungen der Zentralbanken nichts, die Inflation und das Wachstum anzutreiben. Es bewegt sich nichts. Das Geld, das in Europa, Japan und den USA neu geschaffen wird, bleibt oben hängen, im Finanzsektor. Wie die Amerikaner sich fühlen, kann man daran sehen, wen sie in den Vorwahlen wählen.
Die Flüchtlinge sind eine Folge des Scheiterns des westlich-kapitalistischen Entwicklungsmodells der Nachkriegszeit an der Peripherie der modernen Gesellschaft. Dazu gehörten säkulare Staaten, die ihre Gesellschaften allmählich auf den westlichen Entwicklungsstand bringen sollten. Die amerikanische Gesellschaft wurden zum Vorbild der Entwicklung der „Dritten Welt“ erklärt. Modernisierung war das Stichwort. Das hielt man unter Ökonomen und Soziologen in den Nachkriegsjahrzehnten für einen unumkehrbaren Prozess.
Ab den 1980er Jahren wird dann allmählich das Scheitern dieses Modells deutlich, auch als Ergebnis der rabiaten Liberalisierungspolitik der Finanzmärkte. Die säkularen Regime in Irak, Libyen, Syrien versackten in Stagnation und Korruption. Die USA und ihre Verbündeten gaben ihnen den Rest, in der Hoffnung, sie für immer auf Linie zu bringen. Jetzt wundern sie sich, dass zwischen den Trümmern nur Tribalismus und Fundamentalismus als Ordnungsprinzipien übrig bleiben. Mit der Folge, dass jetzt alle nach Europa wollen, weil sie die Hoffnung auf Besserung endgültig verloren haben.
In Deutschland versprechen sich viele Ökonomen, Arbeitgeber und Politiker von den Einwanderern neuen Schwung in der Wirtschaft. Ist das aus Sicht eines Wirtschaftssoziologen verständlich?
Eine seltsame Szenerie zeigt sich in Deutschland. Die Politiker wissen, dass uns ein großes demografisches Problem ins Haus steht. In ungefähr zehn Jahren geht die Generation der Babyboomer in Rente. Die hatten viel zu wenige Kinder, auch wegen der hohen Ansprüche, die das deutsche Produktions- und Arbeitsmarktmodell stellt. Die Rente kann man aber nicht noch mehr kürzen, weil der Eckrentner sonst in die Nähe der Sozialhilfe kommt. Dazu kommt, dass unsere Regierung die Erhöhung des Rentenalters, die ohnehin nicht weit genug ging, zum Teil zurückgenommen hat. Jetzt glauben viele, man könne eine ganze Generation nicht geborener Kinder durch Einwanderung ersetzen. Es stand in den letzten Jahren doch täglich in den Zeitungen, dass wir mindestens 500.000 Einwanderer pro Jahr bräuchten, um die Renten in 10 Jahren noch finanzieren zu können. Man kann aber keiner Gesellschaft so viel Einwanderung in so kurzer Zeit aufzwingen.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Die Botschaft von Angela Merkel - „Wir schaffen das“ – impliziert die Zuversicht, dass die Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt hier besser gelingen wird als zum Beispiel in Frankreich. Glauben Sie das auch?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das besser können. Wir haben schon länger ausgeprägte Integrationsprobleme bei der zweiten und dritten Generation der türkischen Einwanderer. Viele schließen ihre Berufsausbildung nicht ab. Warum sollte das mit Pakistanern oder Afghanen besser laufen? Es gibt jede Menge Potential für Frustration bei den Einwanderern. Die kommen zum großen Teil hierher mit dem Druck, die Kredite, die sie zuhause bei ihren Familienmitgliedern aufgenommen haben, um die Reise zu finanzieren, zurück zu zahlen. Wenn die nun aber jahrelang nur Ausbildungsvergütungen oder gar Sozialtransfers bekommen, können sie das nicht.