Yascha Mounk „Inklusiver Nationalismus sorgt für Toleranz“

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban spricht vor Anhängern. Quelle: Bloomberg

Yascha Mounk wähnt die liberale Demokratie in akuter Bedrängnis. Der Politikwissenschaftler erklärt, wo die Kritik der Populisten angemessen ist und warum hochqualifizierte Einwanderer nicht nur der Wirtschaft dienen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Herr Mounk, bis dato hielt ich – trotz AfD im Bundestag – die deutsche Demokratie für sehr stabil. Habe ich mich einer Illusion hingegeben?
Yascha Mounk: Ich glaube, das haben Sie – und damit sind Sie nicht alleine. Wir alle hatten lange Zeit die Illusion, dass die Zukunft der Demokratie gesichert sei. Nun sehen wir aber in vielen Teilen der Welt, wie die liberale Demokratie in akute Bedrängnis gerät. Ungarn galt vor zehn Jahren zum Beispiel noch als stabile Demokratie. Heute regiert dort Viktor Orban: jemand, der die Pressefreiheit untergräbt, die Gerichte gefügig macht, und immer stärker einem gewählten Diktator gleicht. Und für diese Errungenschaften feiern ihn CSU-Politiker von Manfred Weber bis Horst Seehofer auch noch.

Zur Person

Nun war die liberale Demokratie in Ungarn bei weitem nicht so gefestigt wie die in Großbritannien, in den USA oder in Deutschland. Doch auch in diesen Fällen haben Sie schon vor dem Brexit, vor der Wahl von Donald Trump und vor dem Einzug der AfD in den Bundestag gewarnt. Warum?
Wir beobachten das Erstarken populistischer Bewegungen schon seit vielen Jahren. Es ist eine Mär, dass der Populismus erst 2016 eine politisch relevante Kraft wurde. Betrachten wir die europäischen Wahlergebnisse der letzten Jahrzehnte, sehen wir, dass Populisten Anfang der 2000er Jahre im Schnitt acht Prozent der Wählerstimmen erhalten haben. Mittlerweile liegen sie bei über 25 Prozent. Dieser Anstieg ging recht stetig vor sich. Italien, Großbritannien und die USA zeigen nun, dass Populisten mittlerweile stark genug sind, um Wahlen zu gewinnen, wenn alles für sie richtig läuft. Das passiert nicht jedes Mal, ist aber immer wieder der Fall.

Die Diagnosen in Ihrem aktuellen Buch erinnern an vielen Stellen an das, was die Vertreter der AfD und anderer populistischer Parteien beklagen. Das politische System in Deutschland bezeichnen Sie dort als ein System von Recht ohne Demokratie. Was meinen sie damit?
Unser politisches System will zwei Dinge gleichzeitig gewährleisten: Die Freiheit des Einzelnen und die Möglichkeit, uns kollektiv selbst zu regieren. Das macht unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung so wertvoll. Ich habe – in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern, inklusive den USA – immer mehr den Eindruck, dass das demokratische Element leidet, weil die Parlamente sich schon seit vielen Jahren von den normalen Menschen abgekoppelt haben und viele politische Entscheidungen, die uns alle betreffen, gänzlich aus der parlamentarischen Debatte herausgenommen worden sind. Technokratische, unabhängige Institutionen – Gerichte, Zentralbanken, aber auch Freihandelsabkommen oder internationale Organisationen – treffen Entscheidungen, die uns alle betreffen, aber von demokratischen Verfahren abgekoppelt sind.

Der Soziologe Bruno Latour deutet Populismus und Massenmigration, Steuervermeidung Superreicher und die Leugnung des Klimawandels als Realitäts-Flucht-Bewegungen: Raus aus den „Gated Communities“ - zurück in die Welt!
von Dieter Schnaas

Die Menschen haben solche Institutionen aus gutem Grund erdacht: Wollen wir globale Probleme wie den Klimawandel angehen oder den Welthandel organisieren, braucht es dafür transnationale Organisationen, die die Bemühungen der Nationen koordinieren.
Natürlich. Für die meisten dieser Institutionen gibt es einen echten Bedarf. Trotzdem verstehe ich, warum viele Menschen der Meinung sind, sie hätten keinen Einfluss mehr auf die politischen Entscheidungen ihrer Zeit. Ich kann sogar nachvollziehen, warum einige deswegen etwas Neues ausprobieren möchten und dann, leider, den Populisten ihre Stimme geben.

Also sind die Anliegen der AfD gerechtfertigter, als wir zugeben wollen?
Eine kaputte Uhr zeigt zwei Mal am Tag die richtige Uhrzeit an...

... sagte der Philosoph Bertrand Russell.
Die Populisten haben vielleicht drei oder vier Treffer am Tag. Diese Treffer beziehen sich fast immer auf die Analyse der Situation und fast nie auf die Lösungen, die sie vertreten. Sie monieren ja gerne, dass die Politik zu wenig auf die Sorgen der Bevölkerung eingeht und mehr für abgehängte Menschen tun muss, damit mehr vom wirtschaftlichen Zuwachs bei ihnen ankommt. Und da ist natürlich etwas dran. Das Problem ist nur: Die Populisten machen dafür immer die falschen Sündenböcke aus, sie prangern Minderheiten und viel zu pauschal auch politische Eliten an. Zudem haben sie eine sehr simplizistische Vorstellung von Politik.

Das heißt?
Nach Ansicht der Populisten ist die Ursache all dieser durchaus realen Probleme eine korrupte Elite. Sie glauben, wenn jemand, der wirklich für das Volk spricht, die Macht an sich reißt, könnte er alle Probleme im Handumdrehen lösen. Das ist grundfalsch.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%