Zehn Jahre Pisa Deutschland von der Bildungs-Spitze weit entfernt

Der Pisa-Schock vor einigen Jahren löste Entsetzen in der Republik aus: Mittlerweile sind die deutschen Schüler zwar besser geworden - aber immer noch nicht wirklich gut.

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Schüler einer zehnten Klasse sitzen in einem Klassenraum. Quelle: dpa

Berlin/London Am 4. Dezember 2001 kam die grausame Wahrheit ans Licht: Deutsche Schüler waren im ersten internationalen Pisa-Test nicht einmal Durchschnitt. Beim Lesen rangierten sie gar im letzten Drittel - kurz vor Mexiko und Russland. Fast jeder vierte deutsche Schüler erreichte gerade einmal Grundschulniveau. Besonders krass fiel die Abgängigkeit zwischen Herkunft und Bildungschancen aus: Fast nirgends sonst in der Welt schaffte es die Schule weniger, soziale Defizite auszugleichen.
Die Republik war entsetzt, die Medien riefen die "Bildungskatastrophe" aus, die Kultusminister gerieten massiv unter Druck. Die schnell gefundene Ausrede, "das liegt nur an den vielen Ausländerkindern", ließ die OECD nicht gelten: Klassische Zuwandererländer wie Kanada oder Australien schafften es schließlich sehr gut, Migranten zu integrieren. So brach hektischer Reformeifer aus, ein Megathema war geboren.

Zehn Jahre später steht Deutschlands Schulsystem besser da: In Mathematik und Naturwissenschaften rückten die deutschen Schüler in die Spitzengruppe vor. Auch beim Lesen haben sie sich verbessert, dümpeln aber weiter im Mittelfeld. Der Anteil der Schüler, die gerade auf Grundschulniveau lesen, sank immerhin von 23 auf gut 18 Prozent. Verbessert haben sich vor allem schwächere Schüler, darunter viele Kinder von Migranten. Das Hauptwerkzeug der Kultusminister sind die sogenannten Bildungsstandards: Während früher Lehrpläne penibel vorschrieben, was zu lehren sei, legen nun die Standards fest, was Schüler wann mindestens können müssen.

"Allerdings sind die Standards noch nicht überall in der Schulpraxis angekommen", beklagt der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Hans-Heinrich Driftmann: "Die Folge ist, dass die Schulabschlüsse überregional nach wie vor wenig vergleichbar sind", sagte er dem Handelsblatt. Dennoch: Das Niveau vor allem im Lesen ist weiter stark ausbaufähig. Auch in Mathe und Naturwissenschaften ist der Abstand zu Finnland, Japan oder Korea enorm.


Ganz schlecht sieht es mit der Elitenbildung aus: Die im internationalen Vergleich ohnehin kleine Gruppe der Topschüler ist sogar noch kleiner geworden. Der deutsche Pisa-Koordinator Eckhard Klieme gibt vor allem den Gymnasien die Schuld, der deutschen Eliteanstalt schlechthin. Sie betrieben zu wenig individuelle Förderung, es fehle ihnen an der nötigen "pädagogischen Kultur".

Eine bessere Integration der Mi-granten ist vor allem dem Handwerk ein zentrales Anliegen. "Die Politik muss hier dringend nachbessern - etwa durch bessere Sprachförderung in Kindergärten und Grundschulen", fordert der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Otto Kentzler. "Sonst wandern noch mehr Schüler in das Gymnasium ab, was die Basis für den Übergang in die duale Ausbildung weiter schwächt", sagte er dem Handelsblatt. Daneben pocht gerade die Wirtschaft zusammen mit Bildungsforschern auf mehr Ganztagesunterricht. Denn dieser gilt als bestes Instrument, um sozial benachteiligte Schüler zu fördern. Auch die Berufsorientierung steht noch am Anfang.
Mangelhafte Lehrerausbildung.

Fast nichts getan hat sich für mehr Eigenständigkeit der Schulen: "Die Schulleiter sehnen sich nach mehr Eigenverantwortung, wollen Lehrer selbst aussuchen und engagierte Lehrer besser bezahlen", sagt der Bildungsexperte des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Helmut Klein. Alle bei Pisa erfolgreichen OECD-Länder wendeten personalökonomische Strategien an. "In Deutschland aber ist das Thema Lehrereinstellung und -bezahlung ein Tabuthema - Leistung lohnt sich im Kern nicht", so Klein.
Ein wunder Punkt ist auch die Ausbildung der Lehrer. "Außer ein paar Leuchtturmprojekten sehe ich da nicht viel Verbesserung", sagt Ludger Wößmann vom Ifo-Institut.

Aber vielleicht kommt ja 2012, bei der Veröffentlichung der fünften Pisa-Studie, die große Überraschung: Bis dahin konnten sich alle Reformen, vor allem die besseren Kindergärten, auswirken, meint der langjährige Berliner Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) - dann komme "der große Sprung".


Gute Bildung zahlt sich aus

Anhängern des humanistischen Bildungsideals sträuben sich bei dem Begriff "Humankapital" regelmäßig die Nackenhaare. Bildung sei viel mehr als ein bloßes Mittel zum Zweck, argumentieren sie. Die Qualität von Schulen und Lehrern dürfe nicht mit einer wirtschaftlichen Brille betrachtet werden. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte "Humankapital" gar 2005 zum "Unwort des Jahres" Ökonomen können über diese Debatte nur mit dem Kopf schütteln. Denn für sie ist unstrittig: Ohne gute Schulen gibt es auf Dauer keinen wirtschaftlichen Wohlstand. Dafür sprechen sowohl die gängigen makroökonomischen Modelle als auch zahlreiche empirische Studien. "Ein besseres Bildungssystem", fasst der australische Ökonom Arusha Cooray den Konsens zusammen, "bringt erhebliche ökonomische Vorteile." So stellen Arbeitsmarktforscher immer wieder fest: Wer gut schreiben, lesen und rechnen kann, hat weniger Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Amerikaner, die im Mathe-Unterricht zu den besten 15 Prozent gehören, verdienen später zehn bis 15 Prozent mehr als durchschnittliche Schüler.

Zwischen dem Abschneiden eines Landes in der Pisa-Studie und seinem langfristigen Wirtschaftswachstum besteht ein enger Zusammenhang, stellen Eric Hanushek (Stanford University) und Ludger Wößmann (Ludwig-Maximilians-Universität München) in einer Studie fest, die in der Fachzeitschrift "Economic Policy" erschienen ist. Würden die Kinder in Deutschland so gut schreiben und rechnen können wie im Pisa-Vorreiterland Finnland, würde dies laut Studie bis 2090 einen Wohlstandsgewinn bescheren, der fünf Mal so hoch ist wie die derzeitige Wirtschaftsleistung - schwindelerregende 17 Billionen US-Dollar.

Politiker, die diese Vorteile realisieren wollen, brauchen aber Geduld. Die Wohlfahrtsgewinne stellen sich erst im Laufe von Jahrzehnten ein - wenn diejenigen, die in den Genuss der besseren Bildung gekommen sind, auf dem Arbeitsmarkt sind und dort bessere Jobs mit höherem Einkommen haben.

Erstaunlich ist: Ein gutes Bildungssystem muss nicht zwangsläufig teuer sein, stellen Bildungsökonomen immer wieder fest. Und höhere Bildungsausgaben führen zumindest in Industriestaaten keineswegs automatisch zu besseren Schulen. "Länder mit hohen Bildungsausgaben haben im Durchschnitt genauso gute Ergebnisse wie Länder mit niedrigen Bildungsbudgets", so Hanushek und Wößmann.

Weit wichtiger als das Budget ist die Organisation der Schulen. Dabei kristallisieren sich mehrere Erfolgfaktoren heraus: So bilden zum Beispiel Schulen, die autonom agieren können und sich im Wettbewerb behaupten müssen, besser aus. Auch externe Abschlussprüfungen wie etwa das deutsche Zentralabitur sowie eine spätere Aufteilung von Kindern auf verschiedene Schulformen führen zu besseren Schulleistungen. Studien zeigen: Das deutsche Schulsystem, in dem Kinder nach nur vier Jahren Grundschule auf Gymnasium, Real- und Hauptschule aufgeteilt werden, verbaut viele Perspektiven. Das gilt vor allem für Kinder aus sozial schwachen Familien. Die Bedeutung von Eliteschulen wird dagegen überschätzt. So stellten Forscher der US-Universitäten MIT und Duke jüngst fest: Amerikanische Kinder, die eine Kaderschmiede besuchen, glänzen zwar mit sehr guten Leistungen. Diese würden sie aber in aller Regel auch dann erbringen, wenn sie auf eine ganz normale Schule gingen. Eliteschulen hätten vor allem deshalb leistungsstärkere Absolventen, weil sie sich die besten Schüler aussuchen - und nicht, weil sie den Kindern mehr beibringen.


Hauptschule: Grundsatzstreit beendet

Die Debatte um die Schulstruktur tobte ein Jahrzehnt - nun wandert das dreigliedrige System aus Haupt-, Realschule und Gymnasium auf den Müllhaufen der Bildungsgeschichte. Viele Bildungsexperten hatten das seit dem Pisa-Schock immer wieder gefordert. Auch die Wirtschaftsverbände machten früh klar, dass sie nicht an Schulformen interessiert seien, sondern besser ausgebildete Schulabgänger benötigten Stein des Anstoßes war nicht die Qualität der Schularten. Die Kritik zielte darauf, dass die Schüler nicht nur zu früh, sondern vielfach auch falsch auf die weiterführenden Schulen verteilt wurden - dies hatte der Grundschultest Iglu eindeutig gezeigt. Dazu kam die mangelnde Durchlässigkeit: Es wurden fast nur Schüler "nach unten" weitergereicht, kaum einer schaffte den Wechsel etwa von der Realschule aufs Gymnasium. So wurden Talente vergeudet, was später über den zweiten Bildungsweg nur mühsam korrigiert werden konnte, monierten die Bildungsforscher.

Der Elternwille war eindeutig: Immer mehr melden ihre Kinder auf Realschulen und Gymnasien an; die Hauptschule verkam vielerorts zur Rest-Schule, die mitunter nur noch zehn Prozent der Kinder besuchten. Dazu kam die Demografie: Auf dem Land gab es oft nicht mehr genug Schüler für drei Schulen.

Die programmatische Konsequenz von SPD und Grünen ist die Einheitsschule für alle. Da das jedoch vor allem im Bildungsbürgertum heftige Widerstände auslöst, hat sich ein Trend zur Zweigliedrigkeit entwickelt.
Auf diesen Zug ist zuletzt auch die CDU aufgesprungen: Für sie ist seit dem jüngsten Parteitag das zweigliedrige System aus Gymnasium und Oberschule zumindest "wünschenswert". Am alten System samt Hauptschule hält nun nur noch die CSU fest.


Bundesländer-Check: Bloß keine Vergleiche!

Für den Stadtstaat Bremen war der "Pisa-Schock" 2001 besonders bitter: Zum letzten Platz im Ländervergleich des Schultests kamen Hohn und Spott von Politik und Medien. Drei Jahre später hatte sich die Platzierung trotz besserer Schülerleistungen nicht verändert, Bremens damaliger Bildungssenator Willi Lemke (SPD) versprach: "Die Aufholjagd geht weiter." Hatte er damit recht?

Aus den jüngsten Pisa-Daten können Forscher die Antwort darauf nicht mehr geben, denn den Vergleich der Bundesländer gibt es nicht mehr. Nicht weil er zu teuer wäre, zu aufwendig oder zu kompliziert - sondern weil die Länder ihn schlicht nicht mehr wollen. Stattdessen haben sie einen eigenen Schüler-Test erkoren. Nur: Dort werden jedes Mal andere Fächer getestet. "Damit wird verhindert, dass die Ergebnisse der jeweiligen Landespolitik über die Zeit verglichen werden können", sagt Ludger Wößmann, Bildungsökonom an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dabei wäre das sinnvoll: Die Forscher haben gezeigt, dass der politische Druck gerade auf die schlechtesten Länder wie Bremen einiges bewirkt hat. Dreimal, im Jahr 2000, 2003 und 2006 wurde der Pisa-Test so durchgeführt, dass Vergleiche der Bundesländer möglich waren. "Zwischen 2000 und 2006 haben die schlechtesten Bundesländer ihren Rückstand halbiert und etwa ein Schuljahr aufgeholt", sagt Wößmann. Verstehen kann kaum ein Bildungsforscher, dass die 16 Länder sich nicht mehr vergleichen wollen: "Damit vergeben sie die Chance sich nicht nur aneinander zu messen, sondern von den leistungsfähigsten Bildungssystemen der Welt zu lernen", sagt der Pisa-Koordinator der OECD, Andreas Schleicher.

An neuen Erkenntnissen sind die Bildungsminister offenbar nicht interessiert. Selbst die vorhandenen Pisa-Daten aus den Jahren 2000 bis 2006 gibt die Kultusministerkonferenz (KMK) als Auftraggeber der Studie nicht heraus, wenn ein Wissenschaftler damit gewisse Ländervergleiche plant. "Bestimmte Datensätze der Pisa-Erhebung werden unter Verschluss gehalten", sagt Helmut Klein, Bildungsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft.

Die Pisa-Daten sind auf Computern des Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen in Berlin gespeichert. Und dort gibt es klare Regeln, ob Wissenschaftler zu Forschungszwecken an die Daten kommen. "Wenn Ländervergleiche geplant sind, die so noch nicht veröffentlicht wurden, dann wird der Antrag an die KMK übergeben", sagt Poldi Kuhl, Koordinatorin am Institut. Bei allen anderen Anträgen entscheide das Institut selbst. "In der Regel wird solch ein Antrag abgelehnt", sagt eine Sprecherin der KMK. Die Daten seien schließlich nur für bestimmte Auswertungen erhoben worden und gehörten der Kultusministerkonferenz.

Letztlich hat sie allerdings der Steuerzahler finanziert. "Und bei vielen anderen Daten, die auch öffentlich finanziert werden, gibt es solche Beschränkungen nicht", sagt Wößmann.

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