„Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen“ Angela Merkels Rede im Wortlaut

Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Vorsitzende der CDU, und Volker Bouffier (CDU), stellvertretender CDU-Vorsitzender und Ministerpräsident von Hessen, verlassen die Pressekonferenz im Konrad-Adenauer-Haus Quelle: dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Montag in Berlin ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz angekündigt. Wir dokumentieren die Erklärung in gekürzter Fassung.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Montag in Berlin ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz angekündigt. Die Deutsche Presse-Agentur dokumentiert Merkels Erklärung in gekürzter Fassung:

„Bundespolitisch können wir nach dieser Wahl in Hessen, nach der Landtagswahl in Bayern, nach den Verwerfungen zwischen CDU und CSU im Sommer, nach der quälend langen Regierungsbildung, nach dem vorausgegangenen Scheitern der Bemühungen, eine Regierung von CDU, CSU, FDP und Grünen zu bilden, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Ich bin überzeugt: Wir müssen innehalten. Ich jedenfalls tue das. Und ich wünsche mir, dass wir den gestrigen Wahltag als Zäsur nehmen, dass wir alles auf den Prüfstand stellen, was wir spätestens seit der Bundestagswahl bis heute gesagt und getan haben. Und dann könnte in einer solchen Zäsur auch eine Chance liegen für die Volksparteien CDU, CSU und SPD, für alle demokratischen Parteien unseres Landes - zu klären, was dem inneren Frieden dient, was dem Zusammenhalt des Landes dient und was eben nicht. (...)

Das Ergebnis meines ganz persönlichen Innehaltens, meines Nachdenkens möchte ich Ihnen heute vortragen. Genauso wie ich das an dieser Stelle vor fast zwei Jahren schon einmal getan habe, als ich mich nach langem Nachdenken für die Bundestagswahl 2017 zur erneuten Kanzlerkandidatur entschlossen hatte. (...)

Wenn die Menschen uns also ins Stammbuch schreiben, was sie von den Vorgängen mit der Regierungsbildung auf der Bundesebene und von der Arbeit der Bundesregierung in den ersten sieben Monaten halten, dann ist das ein deutliches Signal, dass es so nicht weitergehen kann. Das Bild, das die Regierung abgibt, ist inakzeptabel. Ihre in weiten Teilen sehr ordentliche Sacharbeit hatte bislang überhaupt keine Chance, wahrgenommen zu werden. Und das hat tiefere Ursachen als nur kommunikative. Ich rede hier wirklich nicht allein, wie es so schön heißt, über ein Vermittlungsproblem.

Ich rede über eine Arbeitskultur. Ich rede darüber, dass es eigentlich ein Treppenwitz der Geschichte wäre, wenn man schon nach gut sechs Monaten den Stab über diese Bundesregierung brechen müsste, nur weil sie sich nicht in der Lage sieht, so zu arbeiten, dass es die Menschen nicht abstößt. Und darauf gilt es sich zu konzentrieren. (...)

Ich habe mir immer gewünscht und vorgenommen, meine staatspolitischen und parteipolitischen Ämter in Würde zu tragen und sie eines Tages auch in Würde zu verlassen. Zugleich weiß ich, dass so etwas in einer politischen Ordnung nicht gleichsam am Reißbrett geplant werden kann. Sondern, dass das nur in einer fortwährenden persönlichen Abwägung von Freiheit und Verantwortung wie auch in enger Abstimmung mit meiner Partei und zwischen den Koalitionspartnern einer Bundesregierung zu geschehen hat. (...)

Welchen Beitrag kann ich also persönlich in der jetzigen Situation leisten für unser Land und für meine Partei? Ich bin seit nunmehr über 18 Jahren Vorsitzende der CDU Deutschlands. Eine Aufgabe, die ich mit Leidenschaft und Hingabe versuche auszufüllen. Und seit fast genau 13 Jahren bin ich Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Ein Amt, das auszufüllen eine tägliche Ehre und Herausforderung ist.

Als ich am 30. Mai 2005 von dieser Stelle aus meine erste Kanzlerkandidatur öffentlich bekannt gegeben habe, habe ich sie unter anderem damit begründet, dass ich Deutschland dienen möchte. Deutschland und den Menschen zu dienen, das ist eine in Zeiten wie diesen - zumal national wie international - sehr herausfordernde, aber auch erfüllende Aufgabe. Und dass ich das nun schon so lange tun darf, dafür bin ich sehr dankbar. Ich habe mal gesagt: Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren. Und das habe ich auch nie vergessen.

Zugleich habe ich das sichere Gefühl, dass es heute an der Zeit ist, ein neues Kapitel aufzuschlagen. (...) Für mich ist es heute an der Zeit, Ihnen folgende Entscheidungen mitzuteilen:

Erstens: Auf dem nächsten Bundesparteitag der CDU im Dezember in Hamburg werde ich nicht wieder für das Amt der Vorsitzenden der CDU Deutschlands kandidieren.

Zweitens: Diese vierte Amtszeit ist meine letzte als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2021 werde ich nicht wieder als Kanzlerkandidatin der Union antreten und auch nicht mehr für den deutschen Bundestag kandidieren. Und, das will ich nur zu Protokoll geben, auch keine weiteren politischen Ämter anstreben.

Drittens: Für den Rest der Legislaturperiode bin ich bereit, weiter als Bundeskanzlerin zu arbeiten.

Und viertens, ja, damit weiche ich in einem ganz erheblichen Maße von meiner tiefen Überzeugung ab, dass Parteivorsitz und Kanzleramt in einer Hand sein sollten. Das ist ein Wagnis, keine Frage. Aber unter Abwägung aller Vor- und Nachteile bin ich dennoch zu dem Ergebnis gekommen, dass es vertretbar ist, dieses Wagnis einzugehen. Wenn ich 2021 wieder als Spitzenkandidatin zur Bundestagswahl antreten wollen würde oder ich mir heute darüber im Unklaren wäre, dann hätte ich diese Entscheidung so nicht getroffen.

Aber ich versuche mit dieser Entscheidung, einen Beitrag zu leisten, der es der Bundesregierung ermöglicht, ihre Kräfte auf endlich gutes Regieren zu konzentrieren, und das verlangen die Menschen ja zurecht. Und dieses Vorgehen fußt im Übrigen ausdrücklich auch auf der Absicht der Bundesregierung, eine Evaluierung ihrer Regierungsarbeit zur Mitte der Legislaturperiode vorzunehmen, die CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben.

Fünftens: Meine Partei, die CDU, kann sich mit einer auf dem Bundesparteitag in Hamburg gewählten neuen Führungsmannschaft, verbunden auch mit dem Prozess für ein neues Grundsatzprogramm, auf die Zeit nach mir einstellen.

Ich bin mir bewusst, dass ein solches Vorgehen in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel ist. Aber ich bin davon überzeugt, dass das Vorgehen viel mehr Chancen als Risiko bietet - für unser Land, die Bundesregierung und auch für meine Partei. (...)

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