Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer hat eine zügige Regierungsbildung angemahnt und eine mögliche große Koalition vor einer „sozialpolitischen Wohltatenpolitik“ gewarnt. „Ich habe derzeit den Eindruck, wir befinden uns auf einem großen Basar, auf dem jeder darum feilscht, sich möglichst teuer zu verkaufen“, sagte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH) der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Notwendig sei wirtschaftliche Vernunft, die Unternehmen bräuchten für Investitionsentscheidungen Planungssicherheit.
Er fügte hinzu: „Wir sind nicht die Bezahlmeister sozialpolitischer Wohltatenpolitik.“ Der Chef des Digital-Branchenverbandes Bitkom, Achim Berg, klagte in der „Süddeutschen Zeitung“ (Samstag): „Dass die Parteien keine Regierung hinbekommen in einer so wichtigen Zeit, das ist ja fast Sabotage am Wirtschaftsstandort Deutschland.“
Die SPD-Führung hatte sich am Freitag nach langem internen Ringen dafür ausgesprochen, nun doch Sondierungen mit CDU und CSU über eine Regierungsbildung aufzunehmen. Ob dies gelänge und wenn ja, in welcher Form, sei offen, sagte Parteichef Martin Schulz. Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel begrüßte die SPD-Entscheidung. Bei einer Rede auf dem CSU-Parteitag in Nürnberg pochte sie erneut auf die Bildung einer stabilen Regierung. Nach einem Vorbereitungstreffen der Spitzen von Union und SPD am kommenden Mittwoch sollen die Sondierungen im Januar starten.
Die SPD schlingert Richtung GroKo
Das hängt vor allem davon ab, ob Schulz genug herausholen kann in den Sondierungen in den ersten beiden Januarwochen, so dass er beim Sonderparteitag - wahrscheinlich am 14. Januar - das Ok der Basis für konkrete Koalitionsverhandlungen bekommt. Bisher sind nach Schätzungen in einzelnen SPD-Landesverbänden bis zu zwei Drittel der Delegierten gegen eine neue GroKo. Schulz will bei den Sondierungen mit der Union für einen „anderen Stil“ sorgen als bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen von Union, FDP und Grünen. „Bei uns wird es keine Balkonbilder geben, auch kein Winken.“ Intensives Twittern von Zwischenständen will er auch unterbinden.
Merkel weiß, dass Schulz ein paar „Leuchtturmprojekte“ braucht, um den Parteitag zu überstehen. Und wenn es zum Koalitionsvertrag kommt, auch noch das abschließende Votum der rund 440 000 Mitglieder. Doch CDU und CSU wollen nur über eine große Koalition reden. Schulz dagegen will auch andere Modelle „ergebnisoffen“ verhandeln - wie eine von der SPD tolerierte Minderheitsregierung oder eine „Kooperationskoalition“, bei der die SPD zwar Minister in die Regierung schickt, aber nur bei Kernprojekten wie dem Haushalt und Auslandseinsätzen mit der Union kooperiert. Bei anderen Themen könnten sich beide Seiten hier auch mit anderen Parteien verbünden. Als Beispiel gilt die gegen die Union durchgesetzte „Ehe für alle“.
Gerade die Jusos sammeln Verbündete für ihre Kampagne #NoGroKo. Sie argwöhnen, die Parteispitze habe sich längst auf GroKo-Verhandlungen eingestellt und nähre nur noch die Illusion von anderen Optionen, um sie ruhigzustellen. Schulz hat in sein zwölfköpfiges Sondierungsteam auch den Landeschef der SPD in Nordrhein-Westfalen, Michael Groscheck, geholt. Im größten Landesverband, der fast ein Viertel der Delegierten bei dem Sonderparteitag stellt, gibt es große Ablehnung; hier wird eine Minderheitsregierung favorisiert. Hat Schulz zu wenig zu bieten, droht eine Ablehnung, dann wäre auch er als Parteichef kaum zu halten. Er argumentiert, dass die SPD auch dringend gebraucht wird, um Reformideen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für „mehr Europa“ zügig umzusetzen.
Zum Beispiel bei einem SPD-Herzensthema, dem Rückkehrrecht von Teilzeitbeschäftigten auf Vollzeitstellen, was vor allem hunderttausende Frauen betrifft. Ziel der Partei ist es, das Leben der Menschen zu verbessern, wieder Kümmerer-Partei zu werden. „Bei gutem Willen auf beiden Seiten halte ich das für lösbar“, sagte Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) dem „Spiegel“. Schon in der letzten Koalition sei das nur an der Frage gescheitert, ab welcher Betriebsgröße das Rückkehrrecht gelten soll. Interessant: Schulz redet auch nicht mehr über eine einheitliche Krankenkasse; viele in der SPD wollen die Flucht von Beamten und Besserverdienern in die private Versicherung stoppen. Hier könnte die Union der SPD mit Änderungen bei den Beiträgen für Arbeitnehmer entgegenkommen.
Nach der letzten GroKo landete die SPD bei der Bundestagswahl bei katastrophalen 20,5 Prozent. Seit dem rot-grünen Wahlsieg mit Gerhard Schröder 1998 hat die SPD zehn Millionen Wähler verloren. Die AfD sitzt der ältesten demokratischen Partei im Nacken. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel lag die SPD bei der Landtagswahl bei 10,6 Prozent, die AfD bei 24,3 Prozent. Als ein Grund wird der Verlust von Profil in einer Koalition mit Merkels Union angesehen - und ein Verlust des Kontaktes zu den „kleinen Leuten“. Kaum jemand weiß, wofür die SPD heute steht - das Wahlprogramm war ein Sammelsurium vieler Vorschläge, ohne klare Idee für die Zukunft Deutschlands in Krisenzeiten. Viele Genossen fürchten auch, als Regierungspartei bleibe zu wenig Zeit für die nötige Erneuerung.
Natürlich Parteichef Schulz, dem aber nach seinem mehrfachen Nein zu einer großen Koalition Misstrauen entgegen schlägt. Wichtig dürfte sein, ob Groschek die NRW-SPD auf GroKo-Kurs bringt, und wie viel Überzeugungsarbeit die Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles im linken Flügel übernimmt. Eine gewichtige Rolle kommt aber auch dem neuen „Parteiliebling“ Malu Dreyer zu - sie wurde gerade erst mit famosen 97,5 Prozent zur neuen SPD-Vizechefin gewählt. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin erinnert in ihrer Rolle an Hannelore Kraft 2013 vor der letzten GroKo: erst große Skeptikerin, die dann die Partei davon überzeugte, dass man es angesichts durchgesetzter Forderungen - wie 8,50 Euro Mindestlohn - machen müsse. Dreyer betont nun: „Man wird am Ende dann sehen, wie weit man mit den Inhalten kommt, darum geht es, was man bewegen kann in unserem Land. (...).“ Senkt sie am Ende den Daumen, dürfte es schwierig werden. Für Schulz beginnt die wohl schwierigste Weihnachtszeit in seiner politischen Karriere.
„Wir brauchen eine trag- und entscheidungsfähige Regierung, deshalb muss die Politik mit der Regierungsbildung jetzt vorankommen“, sagte Wollseifer der dpa. „Bei einer großen Koalition wissen wir zwar, was wir haben. Aber wir wollen keine große Koalition um jeden Preis.“ Der ZDH-Präsident forderte verantwortungsvolle, zukunftsorientierte und professionell ablaufende Verhandlungen. „Übergroße Verhandlungsgruppen und allzu häufige Twitteraktivitäten zum vermeintlichen Verhandlungsstand sind wohl kaum zielführend“, sagte er mit Blick auf die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen von Union, FDP und Grünen.
Auch der Branchenverband Bitkom mahnte zu Eile. Die großen Themen stünden still, „sei es der Digitalpakt oder der Breitbandausbau. Das schmerzt sehr“, sagte Bitkom-Chef Berg der „SZ“. Die Konsequenz sei, dass das Land mindestens ein Jahr verliere. „Die Digitalisierung wartet nicht auf Deutschland oder darauf, dass in Berlin endlich eine Regierung gebildet wird.“
Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Ursula von der Leyen nannte eine Regierung mit stabiler Mehrheit im Parlament „immer die erste Option“. „Wir wollen die große Koalition in aller Ernsthaftigkeit verhandeln“, sagte die geschäftsführende Verteidigungsministerin den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Samstag). CDU-Vize Julia Klöckner sagte dem „Mannheimer Morgen“ (Samstag): „Es ist nicht die Zeit für Experimente, für irgendwelche spielerischen Koalitionsmodelle.“ Ähnlich äußerte sich Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU): „Wir leben in sehr anspruchsvollen Zeiten - was die Lage in Deutschland angeht, aber vor allem international. Wir brauchen deshalb gerade in den nächsten Jahren eine Regierung auf einer absolut verlässlichen Basis. Das ist eine Koalition“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Samstag).
Schulz hat den SPD-Mitgliedern zugesichert, bei Gesprächen mit der Union auch über Optionen wie die Tolerierung einer Minderheitsregierung Merkels zu verhandeln. Dabei würde die SPD keine Minister ins Kabinett schicken und Merkel nur bei bestimmten Projekten unterstützen. Eine weitere Idee ist eine Art „Koalition light“, mit SPD-Ministern in der Regierung. Bei der sogenannten Kooperations-Koalition („Koko“) würden nur wenige gemeinsame Projekte in einem knappen Koalitionsvertrag vereinbart - daneben könnte jede Seite eigene Projekte mit anderen Parteien und Mehrheiten im Bundestag durchsetzen.
Die Sozialdemokraten etwa dringen auf eine Neustrukturierung der Krankenversicherung. Die Union lehnt die SPD-Forderung einer Bürgerversicherung mit Abschaffung der privaten Krankenversicherung aber strikt ab - das demonstrierten Merkel und die CSU auf deren Parteitag in Nürnberg mit einem demonstrativen Schulterschluss. Das Thema dürfte damit zu einem Knackpunkt bei den Verhandlungen zwischen Union und SPD werden.
Am kommenden Mittwoch soll von den Partei- und Fraktionschefs von CDU, CSU und SPD der weitere Ablauf festgezurrt werden. Die Sondierungen sollten aus SPD-Sicht so früh wie möglich Anfang Januar beginnen und bereits in der zweiten Januarwoche abgeschlossen werden. Über die Aufnahme konkreter Koalitionsverhandlungen müsste ein Sonderparteitag der SPD Mitte/Ende Januar entscheiden - und über einen Koalitionsvertrag müssten dann noch die rund 440 000 Mitglieder befinden. Eine neue Regierung wird wohl erst im Frühjahr stehen. Sollten alle Bemühungen zur Regierungsbildung scheitern, könnte es zu einer Neuwahl kommen.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil nannte die Terminplanung für die Sondierung „ambitioniert, aber machbar“. „Es kommt darauf an, sich in konzentrierten Gesprächen über wesentliche inhaltliche Eckpunkte zu verständigen“, sagte der SPD-Politiker der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (Samstag). Juso-Chef Kevin Kühnert kündigte in der „Rheinischen Post“ (Samstag) an, weiter hart gegen eine mögliche Neuauflage der großen Koalition vorzugehen. „Wir sind noch lange nicht auf dem Weg in eine große Koalition“, sagte er.