Zu Besuch beim Lageso „Wir fühlen uns alle von diesen Männern misshandelt“

Die Exzesse von Köln verunsichern Deutschland. Auch die Menschen, die geflüchtet sind. Was sie den Tätern zu sagen haben und wofür sie sich fürchten. Ein Besuch beim Berliner Lageso.

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Johannes Steger mit Baschar, der seit sechs Monaten in Deutschland lebt.

Berlin Irgendwann spürt man die Fingerspitzen nicht mehr, die Füße werden trotz dicker Wollsocken taub. Es ist wieder kalt geworden in Berlin an diesem Vormittag am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Das Thermometer fällt zwar nicht unter null Grad wie noch in der vergangenen Woche, die Regentropfen stechen aber trotzdem auf der Haut.

Der 24-jährige Baschar hat keine Wollsocken an, seine Füße stecken in Turnschuhen, die die feuchte Kälte nicht abhalten können. Unter der zu kurzen Winterjacke trägt er nur ein T-Shirt. Er zittert, seine Stimme wirkt unsicher, aber Baschar will reden – über Köln, Deutschland und die Zukunft. Er ist schockiert über die Vorfälle von Köln. „So ein Verhalten würden wir in unserer Heimat auch nicht akzeptieren“, sagt er.

Wie Baschar kommen Tag für Tag hunderte Menschen zum Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Vor der Zentralen Leistungsstelle warten sie in langen Schlangen. Immer wieder stand das Lageso in der Vergangenheit in der Kritik wegen der teilweise chaotischen Zustände. Flüchtlinge und Asylsuchende mussten stundenlang warten, manche schliefen auf dem Gelände, nur um endlich Leistungen zu erhalten.

Was BER für Infrastrukturprojekte ist, wurde das Lageso Symbol für das Versagen einer Behörde. Seit dem Jahreswechsel ist es ein wenig besser geworden: Neuankömmlinge werden schneller erfasst und dann mit dem Bus in Notunterkünfte gefahren.

Auf dem Gelände irren aber auch an diesem Mittwochvormittag immer noch viele Menschen umher, auf der Suche nach der richtigen Schlange, einer Information oder Hilfe bei einer Übersetzung. Es ist ein Bild wie aus einer anderen Welt. Eine Straße weiter sieht es ganz anders aus. Hinter den Zäunen des Lageso läuft das Leben der Berliner Metropole weiter. Dort sitzen Menschen im Café, laufen Schulklassen über die Straßen, sorgen minutiös getaktete Fahrpläne für pünktliche Abfahrten.

Hier auf dem Lageso ist es anders. Und es ist nicht nur das Warten, das verunsichert. Auch die Ereignisse von Köln haben längst die Menschen auf dem Areal erreicht. Nicht jeder möchte mit Namen und Foto in der Presse erscheinen, viele haben in ihren Heimatländern schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht. Fast alle wollen aber sprechen.

So wie Baschar. Vor sechs Monaten ist er von Syrien nach Deutschland gekommen – ohne seine Familie. Er ist einer von diesen allein reisenden jungen Männern, vor denen jetzt manch ein Politiker oder Stammtischredner warnt.

Von den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht mit den 561 Strafanzeigen wegen Diebstahl und sexueller Belästigung, hat auch Baschar gehört. Er ist überzeugt, dass sie das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Flüchtlingen verändern werden und er kann verstehen, dass viele Deutsche jetzt Angst haben, erzählt er, während er hin und her wippt, um die Kälte zu verscheuchen.

Im Allgemeinen würden die Deutschen nicht zwischen den Flüchtlingen unterscheiden, aber alle seien schließlich unterschiedlich. Zudem müsse man auch zwischen den Herkunftsländern unterscheiden. Angst vor den Konsequenzen Vorfälle in der Silvesternacht habe er aber nicht, erklärt Baschar, weil er bisher nur gute Erfahrungen in Deutschland gemacht hätte.

Konsequenzen, die anderswo in Deutschland schon gezogen wurden: Am Sonntagabend gingen in der Kölner Innenstadt zwanzig Menschen auf sechs Pakistaner los, zwei von ihnen mussten mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Später gingen fünf Täter auf einen Syrer los, der ebenfalls leicht verletzt wurde.


„Die wollen nur das Geld“

Der 23-jährige Hamad aus Syrien hat solche Attacken noch nicht erlebt. Er hat seine Kapuze tief über eine Wollmütze ins Gesicht gezogen und steht in der Schlange vor einem der Zelte, die gegen die Kälte errichtet wurden.

Von Köln hörte er das erste Mal von Freunden, die mit ihm in der Schlange standen. Als er über die Vorfälle spricht, wird seine Stimme härter, zwischendurch schnalzt er verächtlich mit der Zunge. Auch er scheint schockiert über die Vorfälle und ist davon überzeugt, dass sie das Zusammenleben von Deutschen und Flüchtlingen beschädigt haben. Er hat Angst davor, dass jetzt alle verdächtigt würden und sich auch die Zusammenarbeit mit den Behörden erschweren könnte. Neben Hamad steht der 21-jährige Syrer Osama. Er widerspricht: Die Deutschen, die er kenne, seien immer noch gut zu ihm.

Hinter den beiden Syrern hat ein Mann das Gespräch mitangehört. Er ist auf der Suche nach Hilfe. Er weiß nicht, wie er zur richtigen Schlange findet. Naher ist erst seit zwei Wochen in Deutschland, einst arbeitete er in einem Postamt in einer Stadt nahe Bagdad. Seine Kleidung wirkt zusammen gewürfelt, sein Gesicht ist fahl vor Erschöpfung. Von den Exzessen in Köln hat der 30-jährige Iraker noch nichts gehört. Man kann dabei zusehen, wie sich sein Gesicht verändert, als er davon erfährt.

Naher wechselt plötzlich vom Arabischen ins Englische: „Die muss man rausschmeißen. Das sind keine Menschen, sondern Tiere.“ Die Deutschen seien gute Menschen, die ihn alle sehr gut behandelt hätten. Doch Naher ist davon überzeugt, dass es natürlich sei, dass so ein Vorfall geschehen ist: „Viele Menschen, die hierhin kommen, sind keine echten Flüchtlinge. Die wollen nur das Geld“, sagt er entschieden. Man müsse unterscheiden zwischen guten und schlechten Menschen: „Wer ein schlechter Mensch ist, muss gehen.“

Gut und schlecht sind für den Rechtsstaat keine Kategorien, doch er folgenlos sollen die Vorfälle von Köln nicht bleiben. Die Große Koalition will nun die Asylgesetze verschärfen. Laut einem CDU-Beschluss sollen straffällige Ausländer in Zukunft leichter abgeschoben werden können. Sobald es zu einer rechtskräftigen Verurteilung kommt, sollen sie ihren Flüchtlingsstatus oder die Asylberechtigung verlieren.

Doch nicht immer ist das leicht: Wegen oft fehlender Ausweispapiere sei eine Abschiebung zum Beispiel nach Nordafrika oft schwierig, berichtet die „Zeit“ in der aktuellen Ausgabe unter Berufung auf das Bundesinnenministerium. So seien derzeit rund 8.000 Nordafrikaner ausreisepflichtig, die allermeisten aus dieser Region haben keine Chance auf Asyl. Unter den Kölner Tatverdächtigen sind die Nordafrikaner in der Mehrheit.

Naher hat die Schlange inzwischen kurz verlassen, er will noch etwas sagen: „Wir fühlen uns alle von diesen Männern misshandelt. Sie lassen uns alle schlecht aussehen.“ Die Deutschen hätte ihnen so viel gegeben, sagt der Iraker mit fester Stimme: „Wir müssen den Gefallen erwidern. Wir sind nicht hier, um schlechte Dinge zu tun.“

Die Dringlichkeit sich gegen dagegen zu positionieren, wird nicht nur an diesem Mittwochvormittag am Berliner Lageso deutlich. Überall in Deutschland fanden sich nach den Vorfällen in Köln Flüchtlinge zusammen, um zu protestieren. So verteilten am Kölner Hauptbahnhof in der vergangenen Woche junge Männer Rosen an Passantinnen, versehen mit einem Zettel: „Not in my name.“ In Jena fand am Mittwochnachmittag eine Kundgebung mit Rundgang von syrischen Flüchtlingen statt, die sich von Flüchtlingen distanzieren, die – so wie in Köln und anderen deutschen Städten – Frauen attackiert hatten.


1.000 Leute – Tag für Tag

Diesen Willen kennt auch Christiane Beckmann. Die Ehrenamtliche von „Moabit hilft“ läuft auf dem Gelände des Lageso zwischen Wartenden, Suchenden und Sicherheitsleuten hin und her und kümmert sich um alles gleichzeitig. Auch sie bekommt mit, dass sich auf der Straße einiges verändert hat, über Köln würde viel gesprochen.

Viele der Asylsuchenden und Flüchtlinge wollen sich von den Vorfällen abgrenzen, erzählt Beckmann als sie über das Gelände läuft: „Wir von ,Moabit hilft' lehnen das ab. Ich habe noch keinen deutschen Mann gesehen, der sich mit einem Schild hinstellt, wenn Frauen vergewaltigt werden, um sich von anderen Männern zu distanzieren.“

Viele Flüchtlinge hätten aber das Bedürfnis und wollen nicht mit diesen Menschen in Verbindung gebracht werden: „Da spielen ganz andere Ängste mit.“ Zum Beispiel die Furcht in Sippenhaft genommen zu werden. Jedes Mal, wenn sie sich mit diesen Menschen unterhielte, merke man, wie auch die Anspannung körperlich abfalle: „Weil man sie als Menschen sieht und nicht als muslimische Sexbestien.“

Gegen Mittag sind die Schlangen vor den verschiedenen Zelten und provisorischen Aufnahmestellen nicht kürzer geworden. Stetig strömen neue Menschen auf das Gelände. Ehrenamtlerin Beckmann überblickt die Menschenmasse, die sich in dem Transferbereich gebildet hat: „1.000 Leute kommen am Tag hierhin – davon werden vielleicht 100 bis 150 bearbeitet.“ Alle, denen nicht geholfen wurde, müssen am nächsten Tag wieder kommen. Und das oft tagelang: „Wir schaffen es 70.000 Leute nach dem Herthaspiel rauszuholen, aber wir schaffen es nicht, 500 Leute vernünftig durch ne Behörde zu schleusen“, sagt Beckmann resignierend. Tagelang müssen die Menschen mitunter warten, auf Krankenscheine, Papiere oder Geld für ein Ticket, um nicht schwarz mit der Bahn fahren zu müssen. „Das alles passiert auf dem Rücken der Polizei und der Mitarbeiter, die seit Wochen und Jahren einfach unglaublich viel arbeiten.“

Von Unruhe und Wut ist in den Schlangen nicht viel zu spüren. Die Menschen seien hierher gekommen, hätten sich auf Boote getraut, wären monatelang gelaufenen, meint Beckmann: „Für die ist das hier wahrscheinlich Pillepalle.“ Für deutsche Verhältnisse sei es aber katastrophal. Für viele der Wartenden überwiegt die Hoffnung auf ein sicheres Leben – auch nach den Exzessen in der Kölner Silvesternacht.

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