Zufluchtstätte Familie statt Krise

Krise, Kurzarbeit, Kündigungswelle – wenn es draußen stürmt, schreibt der Betrieb Familie als finanzieller Hort und als Produktionsstätte von emotionalem Komfort Rekordgewinne: In der Firma leistet die Verwandtschaft Kredit und Hilfe; zu Hause investiert man in Sofas, Flachbildschirme, Espressomaschinen.

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80 Prozent aller Bundesbürger denken zuerst an die Familie, wenn sie Hilfe benötigen Quelle: Techniker Krankenkasse

Freitagvormittag kam die E-Mail des Betriebsrates; ab Montag sei mit Kündigungen zu rechnen. Freitagnachmittag stürmte Michael Gerster* das Büro des Personalchefs und hielt ihm einen Antrag auf Elterngeld vor die Nase. Es gab nicht viel zu überlegen. Seit acht Jahren arbeitet Gerster als Ingenieur bei einem Automobilzulieferer in Westdeutschland. Die Zeiten waren schon mal besser. Aber in jeder Krise steckt eine Chance. Also rechnete Gerster seine Ersparnisse zusammen und rief seine Frau an: „Könnte sein, dass ich nächste Woche gekündigt werde“, sagte er, und: „Was hältst du davon, wenn ich Elternzeit beantrage?“ Eva Gerster, im neunten Monat schwanger, war sofort einverstanden.

Krise, Kurzarbeit und Kündigungswelle finden seither ohne Gerster statt. Privat hingegen herrscht Sonderkonjunktur. Während die Kollegen im Büro um ihren Job zittern, schiebt Gerster sein Baby im Bugaboo durch den Park. Ein Jahr lang, ganz entspannt. Sein Kalkül: Die Rezession zu Hause aussitzen, sich wohl- und sicher fühlen im Kreis der Nächsten – und dabei dreifach fette Gewinne einstreichen: gesellschaftlich prämiert als moderner Vater, finanziell alimentiert vom Sozialstaat mit 1800 Euro im Monat und arbeitsrechtlich honoriert mit einem Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung. In einem Jahr, rechnet Gerster, dürfte die Firma aus dem Gröbsten raus und das Thema betriebsbedingter Kündigungen vom Tisch sein. Und nicht nur das: Mit drei Sozialpunkten extra für den Filius hat er als fertil pausierender Alleinernährer zugleich für die nächste Krise vorgesorgt.

Familie gehört zu den wenigen Gewinnern der Krise

Ganz anders Peter Kenzelmann, ein junger, dynamischer Mann ohne Haupthaar, ein Ideenproduzent und Gründer, der sich im Hauptberuf als – nun ja: – „kreativer Impulsgeber“ versteht. Kenzelmann ist nicht der Typ, der in der Krise nach Umwegen sucht, sondern nach neuen Zielen. Family, Friends and Fools – Familie, Freunde und Verrückte sind für ihn die ersten Ansprechpartner auf der Suche nach Kapital. Besonders in Zeiten der Geldknappheit, wenn Investoren und Bankberater bei der Frage nach Krediten die Augenbrauen hochziehen.

Als Kenzelmann und sein Geschäftspartner Robert Rückel mit ihrem Businessplan für ein „DDR Museum“ in Berlin überall abblitzen und die beiden „nicht mal von den Bürgschaftsbanken“ unterstützt werden, ärgert sich Kenzelmann zwar, dass „angeschlagene Konzerne wie Opel vom Staat Milliardengarantien bekommen“. Dann aber klopft er sich die Enttäuschung aus den Kleidern – und überzeugt Verwandte und Freunde, ihm Kredit zu gewähren. Seine Eltern nehmen sogar eine Hypothek auf ihr Haus auf, um das Projekt mit mehr als 100.000 Euro unterstützen zu können. Mit Erfolg: Das neue Museum am Berliner Spreeufer erfreut sich hoher Besucherzahlen, trägt sich inzwischen selbst – und Kenzelmann hat das Geld nahezu komplett zurückgezahlt, „ganz ordentlich sogar, mit guter Verzinsung“.

Ob als ökonomische Gelegenheit oder emotionale Zufluchtsstätte, ob aus rationalwirtschaftlichem Kalkül oder leidenschaftlicher Verbundenheit – es spricht viel dafür, dass Familien zu den wenigen Gewinnern der Krise gehören. Wenn es draußen stürmt und herbstelt, schreibt der Betrieb Familie als Produktionsstätte von emotionalem Komfort, aber eben auch als finanzieller Hort und als Ressourcenschatz Rekordgewinne: In der Firma kehrt der Senior an den Schreibtisch zurück, erledigt die Frau des Handwerkers die Schreibarbeit, leistet der Onkel einen privaten Überbrückungskredit; in den eigenen vier Wänden wird die Sehnsucht nach privaten Frühlingsgefühlen und paarweiser Einträchtigkeit gestillt: Man schließt die Welt aus, dreht den Schlüssel um, investiert in Sofas, Flachbildschirme und Espressomaschinen. Es ist die Zeit, in der sogar die Möbelindustrie poetisch wird: „Der Mensch sucht, gerade in Krisenzeiten, eine verbindliche Orientierung“, dichtet Verbandshauptgeschäftsführer Dirk-Uwe Klaas, „eine soziale Identität, die sich aus der Relation zu anderen Individuen ergibt. Durch die Wohnungseinrichtung weiß der Mensch, wo er hingehört.“

Familien mit Kosten-Nutzen-Rechnungen

In die Familie nämlich. Der amerikanische Ökonom Gary Becker weist bereits seit den Siebzigerjahren darauf hin, dass man sich unter Familien vor allem Produzenten von Sicherheit und psychischem Wohlbefinden vorzustellen habe. Familien, so Becker, stellen hauswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen auf. Eltern zum Beispiel begreifen ihre Kinder als Humankapital, einerseits in Erwartung seelischer Zufriedenheit, andererseits in Erwartung einer ordentlichen Verzinsung, etwa in Form von Zuwendung oder von finanzieller Hilfe im Pflegefall. Kinder wiederum erwarten vom Unternehmen Familie Schenkungen, Aufbaukredite, Entlastung bei der Hausarbeit und großelterlich behütete Enkelzeit.

Läuft so ein Familienbetrieb rund, sagt der Bielefelder Familiensoziologe Martin Diewald, gehe es gestärkt in die Krise, durch die Krise – und aus der Krise hervor: Es verkraftet die nötige Versachlichung der Beziehungen in wirtschaftlich turbulenten Zeiten, kann umschalten auf die Re-Ökonomisierung der Familie zur kleinsten gesellschaftlichen Einheit, die sie bis zur Erfindung der romantischen Liebe vor 200 Jahren stets war, kann sich begreifen als Wirtschaftsverbund und Haftungseinheit fürs Leben, als Verpflichtung und Versprechen zugleich, als „informelles Versicherungssystem“, auf das im Schadensfalle zurückgegriffen werden kann.

* Name von der Redaktion geändert

Grafik: Geburten in dEutschland

Entsprechend stellt Gerold Rieder, Geschäftsführender Gesellschafter der Intes Akademie für Familienunternehmen in Bonn, fest, dass „die Familien in den Betrieben derzeit noch stärker zusammenrücken“. Die wechselseitige Hilfe reiche dabei „von punktuellen operativen Maßnahmen über Modelle zur Bereitstellung von Kapital bis hin zum Einstieg als Gesellschafter“. Tom Rüsen, Geschäftsführender Direktor des Wittener Instituts für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke, hat das Krisen-Verhalten familiärer Gesellschafter in einer Studie untersucht. Rüsen kommt zu dem Ergebnis, dass die Gesellschafter in der Regel bereit seien, „weite Teile ihres Privatvermögens einzubringen“, um eine Firma zu erhalten. Grund ist, so Rüsen, das „transgenerationale Erbe“, sprich – die Bürde der Unternehmenstradition: „Keiner möchte derjenige sein, der die Firma am Ende ruiniert oder die Rettung verhindert.“

Während die arbeitenden Jungen über den Generationenvertrag auch politisch verpflichtet sind, mit ihren Rentenbeiträgen für das Auskommen der Alten zu sorgen, fließt der Geldstrom von Alt nach Jung höchst informell. 32,5 Milliarden Euro jährlich, schätzt das Deutsche Zentrum für Altersfragen, überweisen die Großeltern und Eltern an ihre erwachsenen Kinder und Enkel – „besonders viel und häufig, wenn Krisensituationen auftreten“, sagt der stellvertretende Institutsleiter Andreas Motel-Klingenbiel. „Etwa im Falle von Scheidungen oder von Arbeitslosigkeit.“

Familie als wichtigste und beste Ressource

Oder im Falle von Welt- und Wirtschaftskrisen. Eine der größten familiären Erfolgsgeschichten ist der Aufstieg der Familie Rothschild, die sehr früh verstand, das eigene Geblüt als „ihre wichtigste und beste Ressource“ zu begreifen, schreibt der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes. Als Nathan Mayer Rothschild Ende des 18. Jahrhunderts wegen Handelsstreitigkeiten Frankfurt verließ und ein Schiff nach England bestieg, konnte er selbstverständlich über den unbeschränkten Kredit verfügen, den der angesehene Vater in London besaß. Noch enger knüpften die Wendels, eine französische Montan-Dynastie, während der Revolutionsjahre ihre Bande: Der Familienrat entschied, die bestmögliche Verteidigung des Stammsitzes den Alten zu überlassen, damit die Jungen sich ins Ausland absetzen – und beizeiten das Erbe retten oder antreten können.

Nicht ganz so dramatisch ging es beim Stricknadelhersteller Thomas Selter aus dem sauerländischen Altena vor mehr als zwei Jahrzehnten zur Sache. 1986, kurz vor einer Rezession, brach dem Unternehmen die Hälfte seines Umsatzes weg. „Wir erlebten damals das, was die Autobranche heute durchmacht“, erzählt Selter: Plötzlich stand der 1829 gegründete Betrieb vor der Pleite. Die Familie hat damals „alles investiert, was in fünfeinhalb Generationen aufgebaut war“, erinnert sich Selter, und: „Meine Eltern haben sogar ihr Privathaus als Sicherheit zur Verfügung gestellt.“ Am Ende, nach zehn bangen Jahren, knallten bei den Selters die Sektkorken. Das Unternehmen meisterte die Krise und beschäftigt heute 70 Mitarbeiter, mehr als zuvor.

Verwandschaft als Investoren

Auch Niklas Bolle konnte sein Startup nur auflegen, weil die Familie ihm Mut machte – und Geld gab. Bolle hat schon während seines Ökonomie-Studiums in Leipzig das Unternehmen Mygall gegründet; auf der gleichnamigen Internet-Seite können Künstler Kunstdrucke ihrer Originale anbieten – zum Beispiel auf Leinwand oder als Postkarte. Bolles Team kümmert sich um Druck und Versand und berechnet dafür einen Mindestpreis – der Rest geht an den Urheber. Ein schönes Win-Win-Konzept? Dachte auch Bolle – und reiste jüngst zu Banken, das Bargeld war sein Ziel. Doch Bolle suchte vergebens nach Kapital für sein Unternehmen; die Gespräche mit Investoren verliefen im Sand.

Erst war ihnen ein studentischer Gründer zu riskant, dann hatte die Krise die potenziellen Geldgeber so fest im Griff, dass sie nichts rausrückten. „Spätestens da war mir klar, dass ich andere Quellen anzapfen muss“, sagt Bolle. Also versuchte er es am Küchentisch – Bolle überredete seinen Vater und seinen Bruder, jeweils einen fünfstelligen Betrag zuzuschießen. Heute hat Bolle keine Investoren mehr nötig und pendelt relativ gelassen zwischen den Hörsälen seiner Uni und dem Büro. Auf der InternetSeite stellen inzwischen mehr als 5000 Künstler ihre Werke aus, das Unternehmen beschäftigt drei Mitarbeiter, ein paar Praktikanten und Freie.

Grafik: Scheidungen in Deutschland

Wie hilfreich die Familie in Notsituationen ist, erfuhr auch die Firma Grünenthal. Nach der Contergan-Katastrophe vor mehr als 40 Jahren stand das Aachener Pharmaunternehmen vor dem wirtschaftlichen Ruin – und konnte nur durch eine Finanzspritze der Eigentümerfamilie Wirtz gerettet werden. Der juristische Vergleich brachte das Unternehmen damals „an den Rand des finanziell Leistbaren“.

Der ostwestfälische Möbelhersteller Flötotto stand 2002 und 2007 vor dem Aus. Zunächst bewahrte Hubertus Flötotto das Unternehmen vor der Insolvenz; fünf Jahre später waren es sein Neffe Frederik und dessen Vater Elmar, die die Namensrechte der Markenmöbel retteten, 20 Mitarbeiter der alten Fabrik einstellten und nur ein paar Kilometer entfernt vom einstigen Standort in Gütersloh den Neuanfang wagten. „Es tat uns in der Seele weh, dass die über 100 Jahre alte Möbelmarke Flötotto verschwinden sollte“, sagt Frederik, der Chef des neuen Unternehmens. Wie viel Geld die Familie in die Hand nehmen musste, um die Rechte zu bezahlen und die Werkstätten einzurichten, will er nicht verraten. In Ostwestfalen kursieren Gerüchte, dass bis zur ersten Auslieferung mehrere Millionen Euro fällig waren. Dennoch war und ist Frederik als Vertreter der vierten Familiengeneration glücklich über die Entscheidung. Die Insolvenzen waren aus seiner Sicht das zwangläufige Ergebnis einer Führung durch familienfremde Manager, die nichts für den Familiennamen und die Marke empfanden. Heute werde Flötotto wieder „mit Herzblut und Leidenschaft“ geführt - „und es läuft trotz der Krise gut“.

Hochdramatisch geht es seit einem Jahr bei dem Unternehmen William Prym in Stolberg bei Aachen zu. Der fast 500 Jahre alte Hersteller von Handarbeitsartikeln, Textilverschlüssen und technischen Bauteilen für Autos, Handys und Elektrogeräte mit weltweit 3800 Mitarbeitern schien monatelang vor dem Aus zu stehen. Ein Geschäftsführer aus der Familie, der mittlerweile keine Verantwortung mehr trägt, hatte das Unternehmen an mehreren Kartellen beteiligt. Sein Nachfolger, der familienfremde Andreas Engelhardt, musste deshalb 67,5 Millionen Euro Bußgeld an die EU-Kommission überweisen – ein Fünftel des Jahresumsatzes.

Maximal zwei Stunden von Eltern entfernt

Um die Summe aufzubringen, benötigte Engelhardt Kredite, die am angespannten Markt nicht zu erhalten waren; eine von den Banken geforderte Kapitalerhöhung kam nicht zustande – und die streitenden Prym-Gesellschafter waren weder bereit, sich auf die Bedingungen eines interessierten Finanzinvestors einzulassen, noch eigenes Geld ins Unternehmen zu stecken. Erst Ende 2008, kurz vor dem Scheitern aller Bemühungen, siegt jenseits aller familiären Verstimmungen die Vernunft: Sieben Banken stellen die Liquidität sicher, zwei Bundesländer bürgen – und die Pryms sichern über Rückbürgschaften in Höhe von sechs Millionen Euro teilweise die Landeshilfen ab. Warum die Familie sich zu guter Letzt am Riemen riss? Für den Berliner Soziologen Hans Bertram ist die Sache klar: Unabhängig davon, ob man sich verstehe oder nicht: „In schwierigen Phasen sucht man Leute auf, denen man sich emotional verbunden fühlt – selbst wenn es sich um negative Emotionen handelt.“

Die Erfahrung aus früheren Krisen zeigt, dass Familien tatsächlich der Ort sind, an dem die Deutschen Zuflucht suchen, wenn ihre Betriebe in Not geraten, ihre Jobs verloren gehen oder die Gesundheit nicht mehr mitspielt. „Nach dem Krieg war es ganz selbstverständlich, dass die Flüchtlinge zunächst einmal bei Familienangehörigen Hilfe suchten“, sagt Bertram. Schließlich sei die Familie im kriegszerstörten, auch politisch und ideell ausgebombten Deutschland „die einzige Konfiguration“ gewesen, „die überhaupt noch funktionierte“.

Jenseits der großstädtischen Tendenz zur Individualisierung und unabhängig von allen angeblichen Generationenkonflikten, hat sich die Familie nach ihrer biedermeierlichen Verheiligung in den Fünfzigerjahren und ihrer Verdammung als paternalistisches Zwangssystem in den Siebzigerjahren ihre Identität und Bedeutung als Verantwortungsgemeinschaft erhalten. „Der Sozialstaat hat die binnenfamiliäre Verantwortung nicht etwa ausgehöhlt, sondern noch verstärkt“, sagt der Schweizer Soziologe Marc Szydlik, „denn die Bereitschaft des wechselseitigen gebens und nehmens erhöht sich, wenn man was zu geben und zu nehmen hat.“ Noch immer lebten neun von zehn erwachsenen Kindern, so Szydlik, maximal zwei Stunden von ihren Eltern entfernt. Und einer Umfrage von Allensbach zufolge, geben vier von fünf Befragten auf die Frage, wo sie zuerst Hilfe suchen würden, die Familie an.

Geburten in der Krise

Das alles hat zuweilen bizarre Folgen. In den USA, wo die Beschäftigten mit ihrem Job zugleich ihre Krankenversicherung verlieren und die sozialstaatliche Abfederung der Krise längst nicht so weich ausfällt wie hierzulande, erlebt die Ehe als Wirtschaftsverbund gerade ein unfreiwilliges Comeback. Aus schierer ökonomischer Vernunft dümpeln Paare, die sich scheiden lassen wollen, gemeinsam vor sich hin. Viele werden obendrein das gemeinsame Eigenheim nicht los und sitzen als Zweck-WG in der Falle. „Die meisten Häuser sind weniger wert als ihre Hypothek“, sagt der New Yorker Anwalt Raoul Felder. Die Folge: Die Scheidungsraten sind in den USA um fast die Hälfte gesunken.

In der Vergangenheit war es daher so, dass Krisen auch die Lust auf Familiengründung vorübergehend bremsten. Ein Blick in die Geburtenstatistik zeigt: Die beiden großen demografischen Übergänge, die einen langfristigen Trend zur Kleinfamilie kennzeichnen, verdanken wir kriegsunabhängigen Ereignissen – dem beachtlichen Wohlstandszuwachs während der Industriellen Revolution (1880–1933) sowie der Emanzipation der Mutter zur Frau und der Erfindung der Pille (1950–1990). Sowohl während der Weltwirtschaftskrise in den Zwanzigerjahren als auch in Ostdeutschland nach der Wende 1989 beschleunigte sich der Geburtenrückgang.

Familienunternehmer Selter: Als in der Rezession die Hälfte des Umsatzes wegbrach, bürgten die Eltern und halfen so, die schwierigen Zeiten zu überbrücken Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche

Aus demografischer Sicht ist die Krisen-Schockstarre übrigens kein Problem: Die Familiengründung wird im Anschluss an die Krise einfach nachgeholt; die Geburtenraten steigen sprunghaft an – bis sie sich wieder in den langfristigen Trend einpassen. Insgesamt, so Diewald, sei das Bild der Familie in Krisenzeiten daher höchst differenziert: Während Arbeitsplatzunsicherheit allenfalls zu einer Verschiebung von Familiengründungen führe, wirke sich bereits kurzfristige Arbeitslosigkeit negativ auf Paarbeziehungen und Familien aus. Insbesondere bei Frauen könne es allerdings auch zu gegenteiligen Reaktionen kommen: „Erscheint die Arbeitsmarktlage individuell aussichtslos, führt dies erst recht zu Geburten, da der Lebenssinn in der Arbeit nicht mehr gefunden werden kann.“ Vor allem Frauen mit geringen Chancen auf dem Arbeitsmarkt könnten die Flucht in die Familie antreten.

Tatsächlich sind die privaten Beharrungskräfte in Zeiten äußerer Unsicherheit auch in Deutschland so groß, dass man darüber seine Trennungsgedanken vergisst. So ist die im langfristigen Trend steigende Zahl der jährlichen Scheidungen seit 1965 zweimal dramatisch eingebrochen: zunächst Ende der Siebzigerjahre, als der Gesetzgeber vom „Schuldprinzip“ auf das „Zerrüttungsprinzip“ umstellte und die juristisch-finanziellen Folgen einer Trennung zunächst unklar waren – und dann noch einmal 1989 bis 1991, als der Mauerfall den Ostdeutschen eine neue, ungewisse Zukunft versprach. Der Grund liegt auf der Hand: „Private Veränderungen werden in Krisen eher unterlassen“, sagt der Soziologe Martin Diewald, „das persönliche Nahumfeld soll beruhigt werden.“ In der Unsicherheit bleibt alles beim Alten, weil es zu einem „Moratorium aller Familienprozesse“ komme. Egal, ob man Single sei, verheiratet, fünf Kinder habe oder keine – bloß nicht bewegen!

Betonung von Vertrauensbeziehungen in der Krise

Die Krise zu Hause aussitzen – das möchte auch Heidi Winter*, bis vor Kurzem Abteilungsleiterin einer Werbeagentur. Winter verlor Anfang des Jahres ihre Stelle, als die Agentur mangels Aufträgen schließen musste. „Im Moment gibt es für mich sowieso keinen attraktiven Job, also mache ich aus der Not eine Tugend und widme mich meiner Tochter“, sagt Winter. In zwei, drei Jahren sehe es auf dem Arbeitsmarkt bestimmt besser aus, „dann bewerbe ich mich wieder“. Winter hatte in den zurückliegenden Jahren oft wenig Zeit für ihre Familie. Der Job machte Spaß, sie verdiente gut, war ständig unterwegs. „Aber zum Glück gibt es auch noch ein anderes Leben, jenseits der Arbeit. Das genieße ich jetzt und vielleicht ist das alles irgendwie auch ein Glücksfall.“

Wie Heidi Winter besinnen sich viele Menschen in Krisenzeiten „auf das, was wirklich zählt im Leben“, sagt Katja Maischatz, Soziologin aus Lüneburg – und das ist für den einen das Familienunternehmen, für den anderen das Familienleben. Maischatz zufolge, kommt es so oder so „zu einem Wandel der individuellen Wertpräferenzen“ – und daher eben oft auch zu einer verstärkten Betonung von Vertrauensbeziehungen in der Familie. Vor der Antwort aber steht zunächst einmal die Frage: Was zählt im Leben? Insofern ist die Finanzkrise vor allem ein externer Schock, der Familien erschüttert und wachrüttelt, der ihr Gleichgewicht stört, sie aus dem Rhythmus bringt. Es ist, als käme die schnelldrehende Welt für einen Moment zum Stillstand, als hätte man plötzlich Zeit für Fragen, die man sonst beiseite schiebt – Zeit für eine kleine Inventur im Familien-Betrieb: Was ist aus ihm geworden? Was habe ich aus ihm gemacht?

Kurzum: Die Krise wirft Grundsatzfragen auf. Die nach der richtigen Unternehmensentscheidung, die nach der Karriere, die nach dem richtigen Partner; die nach dem Kinderwunsch – und vielleicht auch die nach einem Berufsleben, dem man alles untergeordnet hat. Der Ökonom Joseph Schumpeter hat beim Verfassen seines Hauptwerks schon 1942 gewusst, dass Kapitalismus bedeutet, das Thema Familie unter der Überschrift „Zersetzung“ abhandeln zu müssen. Und Max Horkheimer sah in der Familie geradezu einen Gegenentwurf zur kapitalistischen Gesellschaftsverfassung: Die Familie, so Horkheimer, führe weg von der „feindlichen Wirklichkeit“ – und hin „zur Ahnung eines besseren menschlichen Zustandes“.

* Name von der Redaktion geändert

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