Zukunftsforscher Stephan Rammler Corona-Jahr 2021? „Wir leben gerade in einem großen Reallabor“

Arbeit unter erschwerten Bedingungen? Wie erforschen Wissenschaftler während einer Pandemie die Zukunft? Quelle: Getty Images, Montage: WirtschaftsWoche

Mit einem aufreibenden Jahr wie 2020 konnte niemand rechnen. Oder doch? Ein Gespräch mit Zukunftsforscher Stephan Rammler über die Vorhersehbarkeit von Corona und den Folgen, virtuelle Weihnachtsfeiern und das neue Jahr.

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Stephan Rammler ist seit dem 1. Oktober 2018 wissenschaftlicher Direktor des IZT - Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung. Aktuell forscht er über den Zusammenhang von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Rammler ist Experte für eine nachhaltige, postfossile Mobilität. Aufgrund dieser Expertise berief ihn das österreichische Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie (BMK) 2020 in den „FTI-Beirat Mobilität“. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Heidelberg berief 2019 Stephan Rammler ebenfalls als Mobilitätsexperten in ihr Kuratorium. Neben seiner Tätigkeit für das IZT ist Rammler Professor für Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig.

WirtschaftsWoche: Herr Rammler, lassen Sie mich mit einer etwas seichteren Frage starten: In diesem Jahr hatte ich häufig den Eindruck, dass ich heute gar nicht weiß, was morgen kommt. So unsicher war das Jahr 2020. Nun erforschen Sie die Zukunft. Bitte nehmen Sie mir dennoch die Illusion: Ihnen muss es doch auch so gegangen sein, oder nicht?
Stephan Rammler: Oh, so seicht ist diese Frage gar nicht.

Dann starten wir eben doch etwas härter. Ich bin gespannt.
Also: Die Zukunftsforschung wusste recht genau, dass Pandemien, ob bakteriell oder viral, sehr, sehr wahrscheinlich und erwartbar sind. Das wussten wir, weil Studien dazu durchgeführt wurden. Das wussten wir, weil Szenarien dazu simuliert wurden. Pandemien waren Teil von Literatur und Berichterstattung. Wenn man es hätte wissen wollen, dann hätte man wissen können, dass eine Pandemie wie Corona ausbrechen würde. Deutschland wollte es nur nicht wahrhaben und hat sich nicht ausreichend darauf vorbereitet.

Prof. Dr. Stephan Rammler: „Wenn man es hätte wissen wollen, dann hätte man wissen können, dass eine Pandemie wie Corona ausbrechen würde.“ Quelle: imago images

Den Ausbruch hätte man also kommen sehen können, sagen Sie. Den Verlauf, die Notstände in vielen Krankenhäusern und die dramatischen Auswirkungen auf das öffentliche Leben auch?
Womöglich hätte man einzelne Entwicklungen vorhersehen können, ja. Doch der Verlauf ist nun wirklich sehr komplex. Allein schon deshalb, weil jede Gesellschaft, jedes politische System anders ist. Und anders auf die Pandemie reagiert. Hier gibt es keine Allgemeinformel. Eine Gesellschaft in Entwicklungs- und Schwellenländern etwa ist anders vorbereitet und reagiert anders als ein föderaler und demokratischer Rechtsstaat wie die Bundesrepublik. Und selbst Deutschland ist ganz anders vorbereitet als ein zentralistisch regiertes Land wie Frankreich. Sie sehen: Schon die Ausgangslage ist komplex. Die Bundesregierung musste anders mit der Pandemie umgehen, als es die Regierung in Peking getan hat. Es gibt einfach keine historischen Vorbilder dafür, wie eine moderne, hochgradig arbeitsteilige und digitale Gesellschaft mit pandemischen Lagen umgehen sollte. Wir leben gerade in einem großen Reallabor. Wir müssen der Gesellschaft Zeit geben, kreativ auf die Coronapandemie zu reagieren. Die Politik allein kann per se nicht immer alles wissen.

Wie beurteilen Sie denn die Bekämpfung der Pandemie?
Ich habe relativ zu Beginn der Coronakrise in einem Podcast zwei Szenarien beschrieben. Die beste Variante wäre, dass wir mit einem blauen Auge davonkommen und etwas aus der Bekämpfung der Pandemie lernen: Wir haben schnell einen Impfstoff, verteilen ihn effizient und gerecht und können das normale Leben schnell fortsetzen. Als Ergebnis stellen wir vieles um: die Landwirtschaft, die Produktion von Nahrungsmitteln inklusive Tiermast etwa.

Und das zweite Szenario?
Wenn wir Pech haben, dann wursteln wir uns so durch: Wir haben lange keinen Impfstoff, müssen immer mal wieder in den Shutdown. Dieses Szenario war in Teilen schon zu Beginn des Jahres absehbar. Es war klar, dass die Pandemie nicht im Sommer vorbei sein würde. Die Experten haben schon gesagt, dass Corona jetzt im Winter erst so richtig Fuß fassen würde.

Das klingt so, als hätte Deutschland Ihren Szenarien nach schon mehr als ein blaues Auge kassiert.
Genau, wir befinden uns natürlich in dem schlechteren Szenario. Wir müssen uns notgedrungen durch die Pandemie wursteln, rennen immer wieder in einen Lockdown, die Impfungen starten gerade erst. Trotzdem: Ich finde, unsere Politik hat noch mehr oder minder gut reagiert. Natürlich müssen wir fragen: Warum sind die Schulen nicht vorbereitet worden? Warum haben sich die Altenheime nicht für einen solchen Fall gewappnet? Die Fragen sind notwendig. Doch immerhin war die Politik bereit, so viel Geld in Form von Konjunkturprogrammen und Hilfszahlungen auszugeben. Deutschland ist gerade der beste Ort, in dem wir während der Pandemie leben können. Gut, Neuseeland etwa kommt da schon sehr nah dran und handhabt die Pandemie auch sehr gut. Ob wir aus dieser Phase aber auch etwas lernen werden, ist noch nicht klar.

Sie sehen noch keine Anzeichen dafür, dass die Politik etwas gelernt hat?
Na gut, ich kann sagen, dass es erste Initiativen aus der Politik gibt, sich intensiver mit dem Thema der Resilienz auseinanderzusetzen. Die Pandemie hat uns verdeutlicht, dass wir eben nicht in einem ökonomischen Schlaraffenland leben. Verletzlichkeit gehört einfach dazu: Moderne Gesellschaften sind verletzlich. Etwa bei Stressszenarien wie einer pandemischen Lage. Bei der Resilienz liegt noch eine Menge Arbeit vor uns. Nur ein Beispiel: In dem Moment, in dem wir uns an die Pandemie anpassen, etwa durch eine stärkere Virtualisierung samt Homeschooling, E-Commerce und vielem mehr, machen wir uns gegenüber einem anderen Szenario vulnerabel. Etwa einem Cyber-Angriff. In den kommenden Jahren wird es eine große Baustelle sein, diese Resilienzpolitik mit der Nachhaltigkeitspolitik, die gewaltige Umbrüche mit sich bringt, in Einklang zu bringen.

Wie beeinflusst Corona Ihre Forschung am Institut?
Wir haben gesehen, dass die Themen, die wir schon vor Corona angeschoben haben, die richtigen waren. Wir haben uns etwa mit kritischen Infrastrukturen, Fragen der Resilienz und der Digitalisierung beschäftigt. Gleichzeitig haben wir auch alle Forschungsinhalte auf die Probe gestellt und erkannt: Wir müssten die Resilienz bei der Forschung sogar noch stärker in den Fokus stellen. Und das tun wir jetzt auch. Wir fragen uns etwa, wo die Gesellschaft noch verletzbar ist. Dafür schauen wir uns mögliche zukünftige Stressszenarien an, analysieren ihre Auswirkungen, formulieren eine Resilienzstrategie für dieses Szenario und bringen die Strategie in den öffentlichen und politischen Diskurs ein. Das eröffnet uns neue Forschungsfelder.

„Wir werden Weihnachtsfeiern als hybrides Format anbieten“

Lassen Sie uns das doch mal auf Ihr Institut herunterbrechen: Wie gut konnten Sie bislang mit der Pandemie umgehen?
Super gut. Wir sind als eines der ersten Institute ins Homeoffice gegangen. Bei uns haben selbst vor der Pandemie viele Mitarbeiter schon aus dem Homeoffice gearbeitet. Wir haben schon über technische Voraussetzungen verfügt: VPN-Schnittstellen, Serverintegrationen und vieles mehr. Das hat uns die Virtualisierung erleichtert. Wir konnten sehr schnell coronatauglich arbeiten. Intellektuell wie organisatorisch sind wir als Institut ein Pandemiegewinner.

In diesem Jahr haben wir schon von vielen Krisengewinnern gehört. Auch von Corona als Beschleuniger von Trends wie dem Onlinehandel oder Homeoffice. Lassen Sie und das umdrehen: Gibt es auch Themen in der Forschung, wo Corona eher als Bremsklotz denn als Katalysator wirkt?
Bei uns war das etwa in der Mobilitätsforschung der Fall. Hier ist uns ein großes Projekt mit einer Firma, die sich mit Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen auseinandersetzt, weggebrochen. Da waren wir schon kurz vor dem Projektbeginn. Es ist völlig nachvollziehbar und selbsterklärend, dass private Auftraggeber im Zuge der Pandemie konservativer geworden sind. Vor der Pandemie waren die digitalisierte und die geteilte Mobilität große Themen in der Mobilitätsforschung. Einige der Projekte in diesem Bereich sind im Zuge der Pandemie allerdings bankrottgegangen oder eingestellt worden. Eine Studie zum Thema der sozialen Effekte von Digitalisierungsstrategien im Mobilitätsmarkt, die wir schon Ende 2019 fertiggestellt haben, konnten wir gar nicht erst unter die Leute bringen. Das hat 2020 niemanden interessiert. Dafür machen wir jetzt halt eine Studie zur resilienten Mobilität samt Lernerfahrungen aus der Pandemie: Wie sieht die Mobilität nach Corona aus?

von Jacqueline Goebel, Daniel Goffart, Henryk Hielscher, Katja Joho, Stephan Knieps, Bert Losse, Andreas Macho, Theresa Rauffmann

Solche Studien haben auch unsere Redaktion in der letzten Zeit häufig erreicht: „Thema X NACH Corona“. Ist es nicht noch zu früh, sich mit der Zeit nach Corona zu beschäftigen? Wir stecken ja noch mitten in der Zeit mit Corona.
Nein, das müssen wir zwangsläufig tun – gerade in der Zukunftsforschung. Wir haben schon empirische Belege dafür, dass sich gewisse Trends festsetzen werden: In der Mobilität etwa erlebt das Fahrrad einen wahnsinnigen Boom, E-Commerce ist die Technologie der Zeit und die Virtualisierung der Arbeit wird sich verfestigen. Das sind einige der relevanten Entwicklungen. Wenn die Politik klug ist, wird sie jetzt darauf reagieren: Etwa Rahmenbedingungen setzten, um das Homeoffice resilient zu gestalten. Dann können wir auch heute schon die Frage diskutieren: Wie sieht die Arbeitswelt von morgen aus?

Wie wird die denn aussehen?
Ich bin überzeugt, dass sie hybrid funktionieren wird. Also in einer Mischung aus Homeoffice und der Arbeit im Büro. Darauf müssen sich Unternehmen jetzt einstellen. Und ihre Personalplanung, ihre technische Ausrüstung und ihre Anmietung von Immobilien anpassen.

Lassen Sie uns das auch noch mal herunterbrechen: Wie sieht die Zukunft der Arbeit bei Ihnen am Institut aus? Könnte ich als Mitarbeiter auch nach Corona morgens entscheiden, ob ich ins Büro kommen oder Homeoffice mache?
So ist es. Wir haben uns schon für einen hybriden Ansatz entschieden. Bis kurz vor Corona hatten wir etwa ein Immobilienproblem. Wir wussten nicht mehr, wohin mit der wachsenden Belegschaft. Jetzt haben wir beschlossen, dass wir erst gar keine neuen Flächen anmieten, sondern einfach stärker auf Homeoffice setzen. Hier müssen wir nur klug managen und entscheiden, wann welches Team im Haus ist. Das sind allerdings nur operative Entscheidungen. Wir wollen grundsätzlich auf drei Präsenztage und zwei Homeofficetage pro Woche umstellen. Damit fangen wir jetzt an. Übrigens funktioniert das nicht nur im Arbeitsalltag wunderbar: Unsere virtuelle Weihnachtsfeier in diesem Jahr war ein voller Erfolg und wirklich toll.



Also in Zukunft findet die Weihnachtsfeier nur noch virtuell statt?
Nein, auf keinen Fall. Wir werden Weihnachtsfeiern aber als hybrides Format anbieten. Etwa für Leute, die nicht teilnehmen können, weil sie sich nicht ganz wohl fühlen, oder eine weite Anreise zur Feier haben. Die können sich dann immerhin virtuell dazuschalten.

Warum reicht es noch nicht für eine rein virtuelle Veranstaltung?
Gute Wissenschaftler sollten auch in der Lage sein, eigene Irrtümer einzugestehen: Ich habe in der Vergangenheit unterschätzt, wie schwierig sich Sozialität und Virtualisierung vereinigen lassen. Ich dachte, dass Gespräche, Absprachen oder Feste im Virtuellen mindestens genauso gut funktionieren würden wie in der Realität. Das stimmt einfach nicht, da habe ich mich geirrt. Solange es die Technologien nicht ermöglichen, dass wir uns fühlen wie im Holodeck aus dem Star-Trek-Universum, wird die soziale Qualität der Interaktion im Virtuellen deutlich hinterherhinken. Wir brauchen hier hybride Formate. Rein virtuell funktioniert es noch nicht.

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Jetzt muss ich es aber doch fragen: Sie sprechen stets von Virtualisierung, nicht von Digitalisierung. Wo liegt der Unterschied?
Virtualisierung und Augmented Reality sind nur eine Innovationslinie der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Robotik, Maschinelles Lernen und Automatisierung sind eine weitere, Vernetzung und Big Data die dritte, Plattformökonomie die vierte. Unter dem Schlagwort Digitalisierung werden gerne diverse Themen in einen Topf geworfen, in den sie eigentlich gar nicht in der Zusammensetzung gehören.

Lassen Sie uns zum Abschluss einen Blick ins kommende Jahr werfen. Sie kommen aus der Mobilitätsforschung. Welche Trends werden uns in der Mobilität im kommenden Jahr begleiten?
Ganz neue Themen sehe ich in der Mobilität ehrlich gesagt gar nicht: Fahrräder werden das Verkehrsmittel der Zukunft – nicht nur im privaten Gebrauch, sondern auch in der Logistik. Davon ging die Forschung allerdings schon länger aus. Trends wie das automatisierte und vernetzte Fahren werden sicherlich fortschreiten, sind aber auch nicht neu.

Mehr zum Thema: Wissen Sie Bescheid über 2020? Unser Quiz verrät es Ihnen!

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