Zukunftsforscher Stephan Rammler Corona-Jahr 2021? „Wir leben gerade in einem großen Reallabor“

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„Wir werden Weihnachtsfeiern als hybrides Format anbieten“

Lassen Sie uns das doch mal auf Ihr Institut herunterbrechen: Wie gut konnten Sie bislang mit der Pandemie umgehen?
Super gut. Wir sind als eines der ersten Institute ins Homeoffice gegangen. Bei uns haben selbst vor der Pandemie viele Mitarbeiter schon aus dem Homeoffice gearbeitet. Wir haben schon über technische Voraussetzungen verfügt: VPN-Schnittstellen, Serverintegrationen und vieles mehr. Das hat uns die Virtualisierung erleichtert. Wir konnten sehr schnell coronatauglich arbeiten. Intellektuell wie organisatorisch sind wir als Institut ein Pandemiegewinner.

In diesem Jahr haben wir schon von vielen Krisengewinnern gehört. Auch von Corona als Beschleuniger von Trends wie dem Onlinehandel oder Homeoffice. Lassen Sie und das umdrehen: Gibt es auch Themen in der Forschung, wo Corona eher als Bremsklotz denn als Katalysator wirkt?
Bei uns war das etwa in der Mobilitätsforschung der Fall. Hier ist uns ein großes Projekt mit einer Firma, die sich mit Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen auseinandersetzt, weggebrochen. Da waren wir schon kurz vor dem Projektbeginn. Es ist völlig nachvollziehbar und selbsterklärend, dass private Auftraggeber im Zuge der Pandemie konservativer geworden sind. Vor der Pandemie waren die digitalisierte und die geteilte Mobilität große Themen in der Mobilitätsforschung. Einige der Projekte in diesem Bereich sind im Zuge der Pandemie allerdings bankrottgegangen oder eingestellt worden. Eine Studie zum Thema der sozialen Effekte von Digitalisierungsstrategien im Mobilitätsmarkt, die wir schon Ende 2019 fertiggestellt haben, konnten wir gar nicht erst unter die Leute bringen. Das hat 2020 niemanden interessiert. Dafür machen wir jetzt halt eine Studie zur resilienten Mobilität samt Lernerfahrungen aus der Pandemie: Wie sieht die Mobilität nach Corona aus?

von Jacqueline Goebel, Daniel Goffart, Henryk Hielscher, Katja Joho, Stephan Knieps, Bert Losse, Andreas Macho, Theresa Rauffmann

Solche Studien haben auch unsere Redaktion in der letzten Zeit häufig erreicht: „Thema X NACH Corona“. Ist es nicht noch zu früh, sich mit der Zeit nach Corona zu beschäftigen? Wir stecken ja noch mitten in der Zeit mit Corona.
Nein, das müssen wir zwangsläufig tun – gerade in der Zukunftsforschung. Wir haben schon empirische Belege dafür, dass sich gewisse Trends festsetzen werden: In der Mobilität etwa erlebt das Fahrrad einen wahnsinnigen Boom, E-Commerce ist die Technologie der Zeit und die Virtualisierung der Arbeit wird sich verfestigen. Das sind einige der relevanten Entwicklungen. Wenn die Politik klug ist, wird sie jetzt darauf reagieren: Etwa Rahmenbedingungen setzten, um das Homeoffice resilient zu gestalten. Dann können wir auch heute schon die Frage diskutieren: Wie sieht die Arbeitswelt von morgen aus?

Wie wird die denn aussehen?
Ich bin überzeugt, dass sie hybrid funktionieren wird. Also in einer Mischung aus Homeoffice und der Arbeit im Büro. Darauf müssen sich Unternehmen jetzt einstellen. Und ihre Personalplanung, ihre technische Ausrüstung und ihre Anmietung von Immobilien anpassen.

Lassen Sie uns das auch noch mal herunterbrechen: Wie sieht die Zukunft der Arbeit bei Ihnen am Institut aus? Könnte ich als Mitarbeiter auch nach Corona morgens entscheiden, ob ich ins Büro kommen oder Homeoffice mache?
So ist es. Wir haben uns schon für einen hybriden Ansatz entschieden. Bis kurz vor Corona hatten wir etwa ein Immobilienproblem. Wir wussten nicht mehr, wohin mit der wachsenden Belegschaft. Jetzt haben wir beschlossen, dass wir erst gar keine neuen Flächen anmieten, sondern einfach stärker auf Homeoffice setzen. Hier müssen wir nur klug managen und entscheiden, wann welches Team im Haus ist. Das sind allerdings nur operative Entscheidungen. Wir wollen grundsätzlich auf drei Präsenztage und zwei Homeofficetage pro Woche umstellen. Damit fangen wir jetzt an. Übrigens funktioniert das nicht nur im Arbeitsalltag wunderbar: Unsere virtuelle Weihnachtsfeier in diesem Jahr war ein voller Erfolg und wirklich toll.



Also in Zukunft findet die Weihnachtsfeier nur noch virtuell statt?
Nein, auf keinen Fall. Wir werden Weihnachtsfeiern aber als hybrides Format anbieten. Etwa für Leute, die nicht teilnehmen können, weil sie sich nicht ganz wohl fühlen, oder eine weite Anreise zur Feier haben. Die können sich dann immerhin virtuell dazuschalten.

Warum reicht es noch nicht für eine rein virtuelle Veranstaltung?
Gute Wissenschaftler sollten auch in der Lage sein, eigene Irrtümer einzugestehen: Ich habe in der Vergangenheit unterschätzt, wie schwierig sich Sozialität und Virtualisierung vereinigen lassen. Ich dachte, dass Gespräche, Absprachen oder Feste im Virtuellen mindestens genauso gut funktionieren würden wie in der Realität. Das stimmt einfach nicht, da habe ich mich geirrt. Solange es die Technologien nicht ermöglichen, dass wir uns fühlen wie im Holodeck aus dem Star-Trek-Universum, wird die soziale Qualität der Interaktion im Virtuellen deutlich hinterherhinken. Wir brauchen hier hybride Formate. Rein virtuell funktioniert es noch nicht.

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Jetzt muss ich es aber doch fragen: Sie sprechen stets von Virtualisierung, nicht von Digitalisierung. Wo liegt der Unterschied?
Virtualisierung und Augmented Reality sind nur eine Innovationslinie der Digitalisierung. Künstliche Intelligenz, Robotik, Maschinelles Lernen und Automatisierung sind eine weitere, Vernetzung und Big Data die dritte, Plattformökonomie die vierte. Unter dem Schlagwort Digitalisierung werden gerne diverse Themen in einen Topf geworfen, in den sie eigentlich gar nicht in der Zusammensetzung gehören.

Lassen Sie uns zum Abschluss einen Blick ins kommende Jahr werfen. Sie kommen aus der Mobilitätsforschung. Welche Trends werden uns in der Mobilität im kommenden Jahr begleiten?
Ganz neue Themen sehe ich in der Mobilität ehrlich gesagt gar nicht: Fahrräder werden das Verkehrsmittel der Zukunft – nicht nur im privaten Gebrauch, sondern auch in der Logistik. Davon ging die Forschung allerdings schon länger aus. Trends wie das automatisierte und vernetzte Fahren werden sicherlich fortschreiten, sind aber auch nicht neu.

Mehr zum Thema: Wissen Sie Bescheid über 2020? Unser Quiz verrät es Ihnen!

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