Zukunftstechnologien Der große Umbau: mehr Fortschritt wagen!

Gerade die Bio-, die Quantentechnologie oder die Künstliche Intelligenz können Sprunginnovationen auslösen, die heute nicht zu antizipieren sind, aber exponentiell neue Nutzungsmöglichkeiten schaffen können. Quelle: imago images

Schule, Impfstrategie oder Maskenverteilung machen in der Pandemie unsere mangelnde Zukunftskompetenz deutlich. Um künftige Herausforderungen zu bewältigen, braucht es eine Kultur des Fortschritts. Ein Gastbeitrag.

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Henning Vöpel ist seit 2014 Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI). Im Jahr 2010 wurde Vöpel als Professor für Volkswirtschaftslehre an die HSBA Hamburg School of Business Administration berufen. Seine Forschungs- und Themenschwerpunkte sind Konjunkturanalyse, Geld- und Währungspolitik, Finanzmärkte und Digitalökonomie.

Wenn es richtig ist, dass diese Pandemie wie unter einem Brennglas die Versäumnisse der Vergangenheit in einer Krise der Gegenwart aufzeigt, dann ist die wichtigste Lektion für die Zukunft, dass wir wieder mehr Fortschritt wagen müssen. Technologische Umsetzung, institutionelles Lernen und organisatorische Intelligenz waren und sind in der Krise mangelhaft, die Gesellschaft hat ganz offenkundig zu wenige adaptive oder gar transformative Kapazitäten entwickelt, um mit Krisen dieser Dimension umzugehen. Ob bei Schule, Impfstrategie oder Verteilung der Masken, immer waren Fähigkeit und Bereitschaft zu spontanen kreativen Lösungen zu gering. Lockdown und Bazooka waren die anfangs richtigen, aber mit zunehmender Dauer der Krise erkennbar unzureichenden, nahezu primitiven Antworten. Unsere Systeme funktionieren effizient unter konstanten Bedingungen, außerhalb dieser aber können wir uns immer weniger helfen. Wir müssen, wie Nicholas Nassim Taleb es nennt, „antifragil“ werden, also die Fähigkeit entwickeln, robuste Entscheidungen zu treffen in einer Welt, die wir nicht vollständig verstehen. Der offenkundige Mangel an Zukunftskompetenzen muss Sorge machen, denn je weniger wir heute Zukunft selbst gestalten, desto weniger werden wir morgen in der Lage sein, die großen Herausforderungen zu bewältigen. Wir verlieren uns in kurzfristiger Reparaturarbeit und in einer Verteidigung des Status quo, statt langfristig Fundamente zu legen, auf denen Fortschritt wieder gedeihen kann.

Henning Vöpel, Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) Quelle: HWWI

Zugleich wissen wir, dass sogenannte Tipping Points, Kipppunkte in komplexen dynamischen Systemen, die Umweltbedingungen für unser Handeln sehr plötzlich stark verändern können. Wir haben in der Pandemie erste Erfahrungen mit Kombinationen aus exponentieller Dynamik, existenzieller Unsicherheit und unvollständigem Wissen gemacht. Solche Kombinationen wird es in Zukunft häufiger geben. Digitalisierung und Klimawandel erzeugen historische Umbrüche, die systemische Antworten und einen durchaus fundamentalen Umbau der Wirtschaft erfordern. Um die besten politischen Konzepte dafür wird es bei der nächsten Bundestagswahl vor allem gehen müssen. Nach der geistig-moralischen und der sozial-ökologischen braucht es nun eine psycho-kulturelle Wende für mehr Fortschritt. Politik bestand zuletzt nur noch in der Formulierung von Zielen, ihrer eigentlichen Aufgabe aber, nämlich rechtzeitig Voraussetzungen und Übergänge zu schaffen, kommt sie schon lange nicht mehr nach. Ein solch defensiver Umgang mit den Herausforderungen wird keinen Fortschritt erzeugen, Verbote, Verzicht und Umverteilung werden keine Akzeptanz finden und keine Anreize setzen. Fortschritt liegt nie in der Vergangenheit, sondern im noch Unbekannten, und genau dahin müssen wir aufbrechen.

Mehr Fortschritt ist angesichts der großen Herausforderungen nötig und angesichts der technologischen und wissenschaftlichen Potenziale auch möglich. Schließlich hat die Pandemie mit der historisch schnellen Entwicklung von Impfstoffen ebenso gezeigt, was internationale Kooperation in der Forschung bewegen kann. Wie aber erzeugt man und worin besteht Fortschritt? Fortschritt ist die praktische Umsetzung neuer Ideen in bessere Lösungen für relevante Probleme. Schon diese sehr einfache Definition schließt viele Akteure mit ein: die Wissenschaft, die Politik und nicht zuletzt die Unternehmen. Daron Acemoglu hat gezeigt, dass es bei großen Umbrüchen auf das kluge Zusammenspiel von staatlichen Weichenstellungen und unternehmerischen Innovationen ankommt. Fortschritt in der gesellschaftlichen Mitte entsteht durch die Verbindung von Demokratie und Marktwirtschaft, von legitimiertem Gemeinwohl und individueller Wahlfreiheit.

Das Ausmaß an Fortschritt, zu dem Demokratie und Marktwirtschaft heute und in Zukunft fähig sind, ist auch deshalb wichtig, weil diese sich derzeit in einem geopolitischen Systemwettbewerb mit Autokratien und Feinden der Demokratie befinden. Mehr als konkrete Maßnahmen ist es eine „Kultur“ des Fortschritts, die es in den offenen Gesellschaften liberaler Demokratien zu schaffen gilt. Diese Kultur definiert und erzeugt zugleich Fortschritt. Der Harvard-Evolutionspsychologe Joseph Henrich hat Fortschritt über Zeiträume von Jahrhunderten hinweg analysiert und bestätigt: Fortschritt besteht geradezu in der kulturellen Evolution von Gesellschaften, die maßgeblich getrieben wird durch psychologische und institutionelle Faktoren, also durch die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und sie gestalten.

Drei Handlungsfelder für mehr Fortschritt

Die Zukunft ist offen und der Fortschritt fällt nicht vom Himmel. Fortschritt zu erzeugen und Zukunft zu gestalten, setzt aber einen kulturellen und psychologischen Optimismus voraus, der in der sich erschöpfenden Identitätspolitik des Westens verlorengegangen zu sein scheint. So sieht Francois Jullien das Wesen der Kultur nicht in der Wahrung von tribalistisch abgrenzender Identität, sondern geradezu in der jederzeitigen Möglichkeit zu selbstreflexiver und kooperativer Veränderung. Zukunft entwickelt sich immer in den Raum hinein, den wir ihr geben. Wie groß dieser Raum ist, wird vor allem auch psycho-kulturell entschieden. Heute sehen wir riesige Herausforderungen und gewaltige ungenutzte Potenziale. Die Lücke dazwischen kann gefüllt werden. Der Schlüssel liegt in drei wesentlichen Handlungsfeldern, die in den nächsten Jahren die Top-Prioritäten der Politik sein müssen:

Der Staat muss signifikant mehr in Technologie, Forschung und Infrastruktur investieren. Ob es den in letzter Zeit viel diskutierten „unternehmerischen Staat“ nun tatsächlich gibt oder nicht, so kann er doch ganz im Sinne von Mariana Mazzucatos missionsorientierter Wirtschaftspolitik den Fortschritt systemisch auf die Lösung großer gesellschaftlicher Probleme ausrichten, und zwar durch die Bereitstellung neuer Infrastrukturen, eine Re-Kalibrierung der Institutionen sowie Investitionen in neue Technologien und Wissenschaft. Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, im Bedarfsfall auf ein Fundament aus technologischer und wissenschaftlicher Grundlagenforschung zurückgreifen zu können. Gerade die Bio-, die Quantentechnologie oder die Künstliche Intelligenz können Sprunginnovationen auslösen, die heute nicht zu antizipieren sind, aber exponentiell neue Nutzungsmöglichkeiten schaffen können. Gemessen an diesen Chancen, sind Deutschland und Europa in den großen Zukunftstechnologien massiv unterinvestiert. Das muss sich schnellstens ändern.

Der Markt als System von Wettbewerb und Koordination ist das langfristig beste „Entdeckungsverfahren“ (Hayek) für Fortschritt. Das Unternehmertum muss nach der Krise in einem echten Sinne wiederbelebt werden, und zwar durch Entlastung von Bürokratie und regulatorische Freiräume. Die dezentrale tausendfache Suche nach Lösungen ist in ihrer Fortschrittskraft durch Nichts zu ersetzen. Nach der Krise und vor den großen Herausforderungen braucht es diese Kraft mehr denn je. Gerade hier ist die kulturell-psychologische Erneuerung des Unternehmungsgeistes im Sinne der neo-schumpeterianischen Innovationstheorie besonders wichtig.

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Bildung ist die wichtigste Bedingung von Teilhabe und die letzte Ursache von Fortschritt. Gerade auf die Schulen, Universitäten und Bildungsinstitutionen wird es in den kommenden Jahren entscheidend ankommen. Gesellschaften und Ökonomien werden weit mehr und völlig anders in Bildung und Weiterbildung investieren müssen als heute, um Menschen zu einem immer schnelleren Wandel kreativ und produktiv zu befähigen und so an Fortschritt und Aufstieg zu beteiligen. Die Bildungsinvestitionen müssen viel stärker auf das frühkindliche Alter und das lebenslange Lernen ausgeweitet werden. Die durch die Krise verursachten Bildungsverluste sollten in den nächsten Jahren mit großen Anstrengungen schnell kompensiert werden – aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit und der Zukunftsfähigkeit.

Wenn Wirtschaft und Gesellschaft nach Corona und vor den großen Strukturbrüchen vor einem großen Umbau stehen, dann geht es heute darum, wieder mehr Handlungs- und Gestaltungsoptionen zu schaffen. Ein immer wieder aufgeschobener Strukturwandel führt jedoch in die Alternativlosigkeit und in die defensive Verteidigung des Status quo, wo wieder mehr Freiheitsgrade für die offensive Schaffung von Neuem nötig sind. Es braucht daher jetzt einen mutigen und perspektivischen Umbau, eine industriepolitische und regulatorische Transition – im Kern mit einer psycho-kulturellen Wende, die wieder mehr Fortschritt wagt.

Mehr zum Thema: Ein Gespräch mit Zukunftsforscher Stephan Rammler über die Vorhersehbarkeit von Corona und den Folgen, virtuelle Weihnachtsfeiern und 2021.

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