An dieser Stelle gilt es, eine zweite Paradoxie auszuhalten. Denn ausgerechnet der historische Blick auf Ludwig Erhard zeigt, dass seine Rolle als Vater des Wirtschaftswunders einerseits relativiert werden muss, dass aber andererseits eine Rückbesinnung auf die ökonomischen Prinzipien, ja: auf den Geist des Neoliberalismus heute gebotener denn je ist.
Konkret gesprochen: Das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet - Erhard hin, Erhard her - keinen deutschen Sonderweg. Der ökonomische Aufschwung war das Ergebnis eines Nachfragestaus, fand überall in Europa statt und verdankte sich in Deutschland auch, aber nicht nur, der buchstäblichen Entfesselung der Märkte durch Ludwig Erhard.
Hohle Schmähungen
Auch die andauernden Schmähungen der Neoliberalen gegen Wohlfahrtsexpansion und Sozialstaatsaufbau klingen heute seltsam hohl: Wer sie seit sechs Jahrzehnten wiederholt, wenn er hinter jedem Zuwachs staatlicher Fürsorge eine Freiheitsberaubung wittert und hinter jeder sozialpolitischen Maßnahme eine Gleichmacherei, die die Spannkraft ihrer Nutznießer lähmt, steht am Ende wie ein blöder Phrasenspender da. Denn natürlich hat der Zuwachs an sozialer Sicherheit die Freiheit der Menschen nicht nur gelähmt, sondern auch gestärkt - und Deutschland noch dazu innerlich befriedet.
Umgekehrt hat die soziale Marktwirtschaft als doppelte Antwort auf Laissez-faire-Liberalismus und (National-)Sozialismus allein in Deutschland nicht nur staats-, sondern auch stilbildend gewirkt - bis man sich in den Siebzigerjahren von ihr abwandte und ihr reiches ideelle Erbe verschleuderte.
Erhards Leitmotiv Nummer eins - Erwirtschaften vor Verteilen - zum Beispiel steht nicht nur für den Grundsatz "Produktivitätsplus vor Lohnplus", sondern auch für die Sorge, dass freie, starke Bürger mit Mut, Kraft und Zivilcourage in die Arme eines tyrannisch gesinnten "Kolossalvormundes" Staat (Wilhelm Röpke) getrieben werden könnten, wenn dieser sich nur fürsorglich genug maskiert.
Lange bevor er tatsächlich Gestalt annahm, hat Erhard - auch in kulturkritischer Absicht - vor den Gefahren eines "sinn- und seelenlosen Termitenstaates" und der "Entpersönlichung des Menschen" gewarnt. Heute sind Sattheit, Überdruss, Langeweile und wohlfahrtsstaatlich gesponserte Daueraufenthalte im geistigen Niemandsland keine Randphänomene mehr, sondern so allgegenwärtig, dass man schon ihre bloße Verbreitung zum Anlass politischer Bearbeitung nimmt.
Zweitens: Ohne Währungsstabilität war für Ludwig Erhard die Marktwirtschaft "nicht denkbar". Stattdessen haben wir Schulden aufgehäuft und die Börsen mit der Bearbeitung von Krediten beauftragt, uns hohe Löhne genehmigt und dem Staat unser Steuergeld zur Umverteilung anvertraut, haben Mietwohnungen bezogen und im Gardasee gebadet, statt Eigentum zu bilden und uns vom Staat, so gut es geht, unabhängig zu machen.
Drittens: Ein Kartellgesetz war für Ludwig Erhard das "unentbehrliche wirtschaftliche Grundgesetz" - stattdessen haben wir die Konzentration von Besitz und Macht zugelassen, den Neoliberalismus zur "dumpfen Schrumpfformel für Minimalstaat, Deregulierung und Privatisierung" degradiert, so FDP-Chef Christian Lindner, und den Geldfetisch der Börsen zur Religion erhoben, auf dass sie uns von unseren Verbindlichkeiten erlösen.
Viertens: "Wohlstand für alle und Wohlstand durch Wettbewerb" standen für Ludwig Erhard untrennbar zusammen: "Das erste Postulat kennzeichnet das Ziel, das zweite den Weg, der zu diesem Ziel führt."
Und, was ist passiert? Wir haben den Wohlstand für gratis gehalten und uns zugleich mit einer staatlich gesteuerten Businessclass-Wirtschaft in Konkurrenz gesetzt (China, Russland), die fairen Wettbewerb verhöhnt.
Anders gesagt: Es geht heute nicht darum, sich auf die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard zu berufen. Sondern darum, ihre Trümmer aufzusammeln.
Viel Arbeit ist es nicht. Das größte Vermächtnis des Neoliberalismus ist die kleine Zahl seiner ökonomischen Gebote von kanonischer Bedeutung. Preisstabilität und Sparwille, Wohlstand durch Wettbewerb, selbstsorgender Bürger statt sozialer Untertan, Schutz des Konsumenten gegen Eigentumskonzentration und Machtwirtschaft - viel mehr braucht es tatsächlich nicht für eine funktionierende Marktwirtschaft.
Natürlich müssen die Begriffe Eigentum, Freiheit und Wachstum heute anders gedacht werden als zu Erhards Zeiten: generationenübergreifend, mit Blick auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen weltweit, mit Rücksicht auf ökologische Knappheiten.
Misstrauen gegen die Marktwirtschaft
Nur muss man es nicht mit Rekurs auf eine "neue Balance" tun wie Sigmar Gabriel oder auf einen "dritten Weg" zwischen "Marktverherrlichung und Marktverdammung", wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).
Hinter solchen Formeln verbirgt sich ein Misstrauen gegen die Kräfte der Marktwirtschaft - und kein Zutrauen in ihre ordnungspolitisch regulierte Entfesselung. Neoliberalismus also? Ein zweiter Versuch ist überfällig. Bis es aber so weit ist, liebe Etikettenschwindler in Berlin: Lasst Ludwig Erhard in Ruhe!
Dieser Text erschien erstmals 2014 in der WirtschaftsWoche.