Tatsächlich lässt sich ein größerer wirtschaftspolitischer Gesinnungsgegensatz zwischen Erhard und Gabriel kaum denken: Während Erhard noch nicht zu Wohlstand gekommene Deutsche in Zeiten hochprozentigen Wachstums lange vor Staatsverschuldung und umlagefinanzierter Rente zu Sparsamkeit, Währungsstabilität, Eigentumsbildung und Selbstvorsorge ermahnte, meinte Gabriel umfassend versorgte Deutsche in Zeiten geringen Wachstums nach Schuldenorgie und Sozialstaatsausbau mit immer weiteren Krediten und Programmen, mit Energiezuschüssen und Mietpreisbremsen versorgen zu müssen. Sparen? Wozu? Löhne rauf und Produktivität runter, schließlich leben wir Deutsche nicht etwa "über unsere Verhältnisse", so Gabriel, sondern "unter unseren Verhältnissen".
Der Kuchenbäcker-Erhard
Für Angela Merkel (CDU) wiederum, die Bundeskanzlerin, ist die soziale Marktwirtschaft vor allem deshalb ein verlässlicher "Kompass", weil sie ihr den Weg mal hierhin, mal dorthin weist. Vor zehn Jahren rief sie mit Ludwig Erhard die "zweiten Gründerjahre" aus, um mit Kopfpauschalen, Steuerradikalreformen und allerlei Deregulierungsversprechen "der schwersten wirtschaftlichen Krise seit 1949" den Kampf anzusagen. Seither verschärft sich dieselbe wirtschaftliche Krise zwar schleichend (Staatsschulden, Pensionslasten, Währungsstabilität), und doch optiert Merkel "im Zweifel für den Menschen", um mit Sigmar Gabriel höchst volksfürsorglich Mindestlöhne und Mütterrenten durchzuwinken.
Im ersten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenbäcker-Erhard: "Es ist sehr viel leichter, jedem Einzelnen aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als einen Gewinn aus einer Auseinandersetzung um die Verteilung des Kuchens ziehen zu wollen." Im zweiten Fall beruft sich Merkel auf den Kuchenesser-Erhard: "Das ist der soziale Sinn der Marktwirtschaft, dass jeder wirtschaftliche Erfolg... dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird und einer besseren Befriedigung des Konsums dient."
Und, welche Merkel hat nun recht? Natürlich keine von beiden.
Kuchenbäcker-Erhard hatte damals gut reden. Er war Wirtschaftsminister, Vizekanzler und Regierungschef, als es noch viele Kinder, keine Arbeitslosigkeit, eine junge Industrienation, keinen Globalisierungsdruck, viel mittelständische Konkurrenz und Wachstumsraten von vier bis sieben Prozent gab.
Das heißt, was immer Erhard dachte, dachte er sich - nationalökonomisch und weitgehend kleinwettbewerblich - in steigenden Linien, Zahlen und Kurven. Der Proletarier werde, Wettbewerb sei Dank, "bald nirgends mehr anzutreffen" sein, frohlockte Erhard 1957, und weil die Einkommen immer weiter stiegen und mit ihnen der Lebensstandard, sei es "auch nach sozialen Gesichtspunkten zumutbar, das Individuum in menschlicher Verantwortung zu halten, ja, es sogar stärker als bisher in diese Verantwortung zu stellen".
Individuelle Verantwortung
Wächst der Wohlstand durch mehr Markt, schrumpft nicht nur die Legitimität des Staates, ihn zu verteilen, so Erhard, sondern es wächst auch die individuelle Verantwortung, ihn zur Stärkung der "echten menschlichen Tugenden" einzusetzen: "Verantwortungsfreudigkeit, Nächsten- und Menschenliebe, das Verlangen nach Bewährung".
Wohlstand verpflichtet? Bereits drei Jahre später war Erhard davon selbst nicht mehr überzeugt: "Weniger arbeiten, besser leben, mehr verdienen, schneller zu Reichtum gelangen, über Steuern klagen, aber dem Staat Leistungen abverlangen - das alles kennzeichnet eine geistige Verirrung und Verwirrung, die nicht mehr zu überbieten ist."
Kanzler(innen)jahre: So lange waren die deutschen Regierungschefs im Amt
Der Kanzler der Großen Koalition, Kurt Georg Kiesinger, war von 1966 bis 1969 Regierungschef der Bundesrepublik, nämlich fast drei Jahre (Zwei Jahre und elf Monate).
Quelle: Bundesregierung
Sein Nachfolger, Ludwig Erhard, war immerhin drei Jahre und zwei Monate Bundeskanzler.
Willy Brandt, der vor allem durch seinen Kniefall von Warschau bekannt ist, war von 1969 bis 1974 Bundeskanzler, genauer gesagt betrug seine Amtszeit vier Jahre und sieben Monate.
Sieben Jahre und einen Monat war Gerhard Schröder Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Helmut Schmidt konnte dies bei einer Amtszeit von acht Jahren und fünf Monaten noch übertreffen.
Seit dem 22. November 2005 ist Angela Merkel die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Anfang Mai 2017 ist sie demnach schon mehr als elf Jahre und fünf Monate im Amt.
Konrad Adenauer war bei den Deutschen überaus beliebt. Bei einer Amtszeit von 14 Jahren und einem Monat ist er nach dem jetzigen Stand der am zweit längsten amtierende deutsche Regierungschef.
Ganze 16 Monate und einen Monat war Helmut Kohl deutscher Regierungschef. Das hat ihm bisher niemand nachgemacht.
Wie gesagt: Erhard hatte gut reden. Sein Ordnungsruf war triftig, weil es damals nach Jahren der Not für jeden Deutschen steil aufwärtsging. Weil Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Fortschritt noch Synonyme waren und rauchende Schlote Sinnbilder des Glücks. Weil sich ein nivellierter Mittelstand herausbildete, in dem "Maß und Mitte" (Wilhelm Röpke) herrschten. Und weil die soziale Marktwirtschaft noch von den bürgerlichen (und religiösen) Voraussetzungen lebte, die sie selbst nicht garantieren kann: von Bescheidenheit, Sparsamkeit, Triebaufschub und Leistungswillen.
Anders gesagt: Erhard schwebte nicht nur ein "Ideal der Stärke" vor; er konnte auch noch darauf zählen, es in der Wirklichkeit anzutreffen. Erhard vertraute nicht nur Menschen, die "sich aus eigener Kraft bewähren, das Risiko des Lebens selbst tragen, für ihr Schicksal verantwortlich sind"; er konnte ihnen im Vertrauen auf unbegrenztes Wachstum Tugendhaftigkeit auch leicht abverlangen.