Deutschland, einig Fachkräftemangelland! Das Fehlen von qualifiziertem Personal hierzulande droht immer mehr zum Konjunkturkiller zu werden. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) gab es im vergangenen Dezember 533.000 Stellen, für die sich keine passenden qualifizierten Bewerber fanden. Das trifft vor allem die Unternehmen. Knapp 44 Prozent von ihnen geben laut einer Umfrage des Ifo-Instituts an, vom Fachkräftemangel beeinträchtig zu werden. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bezeichnet das Fehlen von ausgebildetem Personal gar als größte Bedrohung für den Wohlstand in Deutschland.
Höchste Zeit für einen Kurswechsel. Da das Potenzial im Inland mit weniger Teilzeit, höhere Frauenerwerbsquote und späterer Renteneintritt aber lange nicht reicht, braucht Deutschland dringend qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland. Bisher klappt die Anwerbung bei Weitem nicht so gut wie nötig. Experten schätzen, dass Deutschland im Jahr mindestens 400.000 ausländische Fachkräfte benötigt, um seinen Wohlstand zu halten. Damit das gelingt, reformiert die Bundesregierung gerade das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Ausländische Fachkräfte sollen so leichter nach Deutschland kommen.
Auf Anwerbetour
Mit der Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes schaffe man „das modernste Einwanderungsrecht Europas“, sagte Heil, bevor er am Wochenende eine Reise nach Brasilien antrat. Zusammen mit Außenministerin Annalena Baerbock wirbt er in diesen Tagen in Südamerika um Pflegekräfte. „Damit diese Weiterentwicklung Früchte trägt, wollen wir in Brasilien für Deutschland als attraktiven Standort mit guten Arbeits- und Lebensbedingungen werben“, so Heil weiter. Es gelte das Einwanderungsrecht „mit Leben zu füllen, um helfende Hände und kluge Köpfe davon zu überzeugen, nach Deutschland zu kommen“.
Dafür sind aber auch die Unternehmen gefragt. Denn trotz der Notlage rekrutieren die Firmen hierzulande kaum ausländische Fachkräfte. Das zeigt der Fachkräftemigrationsmonitor der Bertelsmann Stiftung. Demnach ging gerade mal jedes sechste Unternehmen diesen Weg, um Engpässe bei Fachkräften zu überwinden. Ähnlich wenig wie in den Vorjahren. Die meisten Unternehmen setzen lieber auf Aus- und Weiterbildung sowie eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber warum?
Sandra Schorrer von der IHK Reutlingen ist Projektkoordinatorin im vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Pilotprojekt „Hand in Hand for International Talents“. Das Projekt unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen bei der Rekrutierung und Einreise von Fachkräften und bei deren Integration. Schorrer kenne Unternehmen, die außerhalb des Projektes aufgehört haben, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzustellen, „weil es mitunter so zeitaufwendig ist“.
Es hapere vor allem an der Dauer für einen Termin bei den Botschaften, genauso wie an den Ausländerbehörden, die personell unterbesetzt und für eine schnelle Bearbeitung der Anträge nicht ausreichend digitalisiert seien. „Auch das Anerkennungsverfahren der beruflichen Qualifikation dauert teils 12 bis 18 Monate. Unternehmen können so nicht planen.“
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Das deckt sich mit dem Fachkräftemigrationsmonitor der Bertelsmann Stiftung. Unternehmen, die bereits Fachkräfte aus dem Ausland rekrutiert haben, gaben demnach an, dass die bürokratischen und rechtlichen Hürden ebenso wie sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten seit dem Jahr 2021 deutlich zugenommen hätten. Insgesamt sind die größten Hindernisse: Schwierigkeiten bei der sprachlichen Verständigung (56,6 Prozent), gefolgt von Problemen bei der Einschätzung von Qualifikationen (38 Prozent) und bürokratische Hürden (36,4 Prozent). Auch die Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen nannte über jedes vierte befragte Unternehmen als Hürde.
„Keine Ressourcen“
Oft haben Unternehmen aber auch personell gar nicht die Möglichkeiten, ausländische Fachkräfte anzuwerben. Karl Haeusgen, Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), bemängelt deshalb, dass die private Arbeitsvermittlung im reformierten Entwurf des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes bisher nicht zugelassen ist. Mittelständische Technologieunternehmen oder Start-ups bräuchten aber Unterstützung bei der Anwerbung: „Sie haben dafür keine administrativen Ressourcen.“
Letztlich müssen aber auch die Betriebe umdenken. Dass einige von ihnen die fehlenden Sprachkenntnisse der Migranten und die Reaktionen in der Belegschaft scheuen, sagt auch Sandra Schorrer von der IHK Reutlingen. „Die perfekte Fachkraft, die bereits perfekt Deutsch spricht, sehr berufserfahren ist und sich für die ländliche Region entscheidet, gibt es aber selten. Unternehmen müssen sich mehr öffnen.“ Auch wenn viele kleine und mittelständische Firmen inzwischen verstanden hätten, dass sie ohne ausländische Fachkräfte mittel- bis langfristig nicht mehr überlebensfähig sind.
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