
Bürger fragen Kanzlerin, Bürger bitten Kanzlerin, Bürger beschimpfen Kanzlerin. Das ist ungefähr die Palette der Regungen, die Kontakte mit Angela Merkel beim Volk auslösen. Vielleicht noch: Bürger loben Kanzlerin. In Duisburg-Marxloh ist es an diesem Dienstag ganz anders. „Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?“, fragt da die Kanzlerin den Bürger.
Duisburg-Marxloh stellt eben vieles auf den Kopf. Der Ort, an dem Merkel ihren Grenzgang zwischen Regieren und Wahlkampf namens „Bürgerdialog“ Anfang der Woche weiterführt, war einmal ein besonders wohlhabender Teil des Ruhrgebiets und ist heute ein besonders armer. Die Fassaden gehören zu den schönsten der Stadt, die Hinterhöfe zu den dreckigsten. In Marxloh hört man Frust über zu viel Zuwanderung, geäußert vor allem von türkischen Geschäftsleuten. In Marxloh gibt es keine einfachen Antworten, dass muss auch Angela Merkel erkennen.





Und da liegt ihr Problem. Denn die Antworten, die man in Marxloh sucht, sucht man gerade auch im ganzen Land.
Der Innenminister hat in den Tagen zuvor die Flüchtlingsschätzung verdoppelt, 800.000 Menschen kämen demnach 2015 nach Deutschland. Dann haben sich im Dresdner Vorort Heidenau Rechtsradikale Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Seitdem überschlagen sich die Forderungen. Vizekanzler Sigmar Gabriel nennt die Protestierenden „Pack“, das „Pack“ droht als Antwort der SPD-Parteizentrale mit einer Bombe, ein Polizeigewerkschafter fordert Bannmeilen rund um Flüchtlingsheime, bayrische Minister wollen statt Geld nur noch Sachleistungen an Flüchtlinge ausgeben. Der Bund gibt den Kommunen eine Milliarde Euro mehr, um die ärgsten Lücken zu füllen. Und alle fordern, die anderen Europäer sollten Deutschland ein paar Flüchtlinge abnehmen. Und Merkel? Schweigt. Bis zu ihrem Besuch in Marxloh. Plötzlich Brennglas einer bundesweiten Debatte.
Länder mit der höchsten Zahl der Asylbewerber (2014)
Zypern
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.255
...pro 100.000 Einwohner: 145
Deutschland
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 126.705
...pro 100.000 Einwohner: 158
Belgien
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.030
...pro 100.000 Einwohner: 189
Ungarn
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 18.895
...pro 100.000 Einwohner: 190
Luxemburg
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 1.070
...pro 100.000 Einwohner: 199
Österreich
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 17.500
...pro 100.000 Einwohner: 207
Norwegen
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 11.930
...pro 100.000 Einwohner: 236
Schweiz
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 21.305
...pro 100.000 Einwohner: 265
Malta
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 2.245
...pro 100.000 Einwohner: 533
Schweden
Zahl der Bewerber...
...insgesamt: 54.270
...pro 100.000 Einwohner: 568
Wenn all die Flüchtlinge kommen, sehen Dresden, Nürnberg oder Rostock dann bald aus wie Marxloh? Und wie schlimm wäre das eigentlich? Merkel hört erst mal zu. Hört von bulgarischen Zuwanderern, die nachts Lärm machen und ihren Müll auf die Straße werfen. Von anderen bulgarischen Zuwanderern, die keine Krankenversicherung haben und trotzdem krank werden. „Denen muss man doch helfen!“, sagt ein örtlicher Pater. „Aber wir können das auch nicht alles übernehmen, sonst kommen noch viel mehr Menschen hierher“, wendet Merkel ein. Es ist ein besonders ehrlicher, wenn auch ernüchternder Moment in der Diskussion.
Wie die Kanzlerin sind auch die meisten Deutschen derzeit hin und her gerissen. Auf der einen Seite ist da der unmittelbare Wunsch zu helfen, wenn ein Flüchtling Angesicht zu Angesicht vor ihnen steht. Auf der anderen Seite das Wissen: Ohne Grenzen geht es nicht. Auch ein Land wie Deutschland kann nicht die Probleme Dutzender Staaten alleine lösen. Seit Mazedonien vor ein paar Tagen seine Grenze zu Griechenland wieder geöffnet hat, wandern Tausende Menschen Richtung Serbien und Ungarn gen Norden. Viele von ihnen nennen Deutschland als Ziel.
Deutschland muss also nun einen Plan entwickeln, wie es grundsätzlich weitergehen soll. Die Politik des Provisoriums ist an ihre Grenzen gestoßen. Bloß, wo soll der Plan herkommen, wenn noch nicht mal die Bundeskanzlerin einen hat?





Nun ja, wer in diesen bewegten Sommertagen zu jenen Orten reist, an denen die abstrakten Flüchtlingszahlen aus den Nachrichten zu konkreten Schicksalen werden, wer mit Lokalpolitikern, Helfern und Unternehmern spricht, der erahnt Konturen eines Planes, wie Deutschland eine Rekordzahl von Flüchtlingen aufnehmen und dabei sogar noch ein besseres, weil zukunftsfähigeres Land werden könnte.
Notfallmanagement ersetzt Grundsätze
Zum Beispiel, wenn man da ansetzt, wo der Flüchtlingsstrom zu einem Bus mit 50 Menschen wird, die in den nächsten 48 Stunden ein Dach über dem Kopf brauchen. Miriam Koch ist Politikerin bei den Grünen, doch mit den moralischen Grundsätzlichkeiten ihrer Partei kann sie derzeit nur wenig anfangen.
„Natürlich sind Zeltunterkünfte Mist, aber immer noch besser als Obdachlosigkeit“, sagt Koch. Sie ist die Flüchtlingsbeauftragte der Stadt Düsseldorf, jeden Tag kommen bei ihr derzeit solche Busse an. In Berlin wettern ihre Parteifreunde gerne gegen „unmenschliche“ Unterbringungen in Zelten, in Düsseldorf ist eine Grüne die erste im Bundesland, die Flüchtlinge in solche Zelte schickt. „Als ich im Frühjahr meinen Job begann, habe ich mir vorgenommen, dass wir uns um Deutschkurse und die Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge kümmern“, sagt Koch. „Jetzt bin ich nur noch mit Notfallmanagement beschäftigt.“